Der Chefarzt
wie es einem erscheint. Sie glauben wohl nicht, daß ich hier rauskomme, zumindest nicht für lange …«
»Unsinn! Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre Gedanken sieht man Ihnen an, Sie sind sicherlich ein schlechter Lügner. Wieso glauben die Ärzte, daß nur sie die Patienten durchschauen. Haben Sie niemals daran gedacht, daß es auch umgekehrt sein könnte?«
Jetzt konnte er ein bitteres Interesse nicht mehr verbergen. »So? Sogar Geheimnisse?«
»Wir alle haben unsere Geheimnisse«, sagte sie. Zum erstenmal war sie von einer inneren Bereitschaft überwältigt, einem anderen die Verwirrung ihres Lebens anzuvertrauen.
Was immer ich tue, schwor sie sich, ihm erzähle ich nichts.
3
Bertram war ein Frühaufsteher. Um fünf Uhr morgens empfand er die Ruhe der noch schlafenden Welt als vollkommen. Er stand auf, ging barfuß an der Verbindungstür zum Schlafzimmer seiner Frau vorbei und warf ihr einen verhalten-zärtlichen Blick zu. Im Halbdunkel sah er Malvinas schlanken Körper mit angezogenen Knien und auf der rechten Seite liegend sich unter der leichten Daunendecke abzeichnen. Auf dem Kissen war Malvinas Gesicht unter dem langen Blondhaar nicht zu sehen (tagsüber trug sie ihre Haare glatt nach hinten gekämmt, eine Frisur, die Malvinas feine Gesichtszüge hervorhob). Manchmal kaute sie im Schlaf an einer Haarsträhne. Er sah sie noch zwischen den schimmernden Zähnen und dachte zerstreut, daß Malvinas Lippen, sinnlich und wohlgeformt, einen Widerspruch zu ihrem Gesicht darstellten.
Die Zeit bis sechs Uhr dreißig gehörte ihm. Die Bediensteten wußten, daß er niemand zu sehen wünschte. In diesen frühen Stunden hatte Bertram manches Problem gelöst. ›Es wäre möglich‹, dachte er an diesem Morgen, ›daß zwei Freundinnen zur gleichen Zeit ins Krankenhaus gehen. Es wäre möglich, daß bei Karen und Violet am gleichen Tag ein Probeschnitt durchgeführt wurde.‹
Was diese Geschichte erst merkwürdig machte, ist die Tatsache, daß bei Karen ein Brustkrebs diagnostiziert wurde und bei Violet nicht. Dennoch starb Violet ein knappes Jahr später an den Folgen eines Brustkrebses. Auf derselben Seite, auf der Stephan Thimm zuvor keine Geschwulstzellen gefunden hatte. Warum hatte Stephan seine Fehldiagnose – vorausgesetzt, es war eine – nicht erwähnt und so getan, als ob er Violet nicht kannte? Er hätte spätestens bei Violets zweitem Krankenhausaufenthalt davon erfahren müssen, als man ihm routinemäßig eine erneute Gewebeprobe von ihr vorgelegt hatte. Die Präparate der ersten Untersuchung bekam der Untersucher immer zum Vergleich mit. Warum leugnete er, sich an den Fall Girstenbrey zu erinnern?
Bertram dachte an Violets Mann. Es dürfte nicht schwerfallen, ihn zu finden. Er entschloß sich, mit Herrn Girstenbrey über diese Angelegenheit zu sprechen.
Als ihn sein Chauffeur in die Klinik fuhr, dachte Bertram bereits an die Ausbaupläne der Intensivstation. Wegen der notwendigen Finanzierung wollte er noch heute mit dem Finanzminister sprechen.
4
Zwölf Jahre ist eine lange Zeit. Es dauert eine Weile, bis man Herrn Girstenbreys Adresse ausfindig gemacht hat. Er ist ausgezogen und hat inzwischen eine neue Stellung. Er wohnt jetzt in einem Vorort. Es ist eine dieser Trabantenstädte, die wie Pilze aus dem Boden schießen und aus häßlichen, gleichförmigen Hochhäusern bestehen, mit hellhörigen Wohnungen.
Auf eine freundliche Vorladung, die ihm Bertrams Sekretärin in seinem Auftrag schickt, reagiert Herr Girstenbrey nicht. Der Chauffeur kommt unverrichteterdinge zurück. Bertram entschließt sich, selbst hinzufahren.
Es ist an einem Sonntag, als er um drei Uhr nachmittags ankommt. Außer ein paar Kindern, die gleich zu seinem auffälligen Wagen laufen, sind die Hochhäuser still. Nach einem üppigen Mahl hat man sich aufs Ohr gelegt.
Bertram findet Nr. 15 sofort. Unten ist ein Schild: Eckstein, Hausmeister.
Herr Alois Girstenbrey wohnt im vierten Stock. Im Treppenhaus riecht es nach Sauerkraut und einem süßlichen Gewürz. Er läutet und wartet. In der Wohnung rührt sich nichts. Er läutet noch mal. Lautlos geht die Türe auf, und er kann seine Überraschung nicht verbergen. Vor ihm steht ein Mann in weichen Hauspantoffeln, mittelgroß, mit einem vorstehenden Bauch. Dieser Mann ist eine Karikatur jenes Herrn Girstenbrey, den Bertram gekannt hatte – älter und aufgedunsen. Die Leidenschaft in seinen Augen ist verschwunden, jetzt sind sie nur noch feucht.
»Ich hätte es mir denken
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