Der Chefarzt
vergessen, langsam und unmerklich, wie es im Alltag geschieht. Eines Tages würde er die medizinischen Zeitschriften, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, wegräumen lassen, ungelesen. Das würde der Anfang vom Ende sein.
Auch seine klinische Erfahrung, in Jahren mühevoller Kleinarbeit gesammelt, würde bald beim Teufel sein. Er würde aufhören, ein bedeutender Arzt zu sein, nur ein kleinstädtischer Quacksalber, ein Modearzt, der ein Vermögen verdient.
»Du fürchtest dich vor einer Privatpraxis, nicht wahr, Johannes?«
Er fürchtete sich vor vielen Dingen. Auch vor ihr.
Am Ende dieses Winters kündigte Bertram überraschend seine Stelle an der internen Klinik und beanspruchte gleichzeitig den ihm noch zustehenden Urlaub. Er hatte die Stelle des ersten Oberarztes an der medizinischen Klinik einer kleinen Universitätsstadt am Neckar angenommen. Es war eine Flucht nach vorne.
Sein Abschied von Malvina war kurz und viel zu förmlich, um gleichgültig zu sein.
Vor acht Jahren war Bertram hierhergekommen, um die Universität zu erobern. An einem schönen Frühlingsmorgen verließ er diese Stätte.
DRITTES BUCH Die Klinik
Verspätete Hochzeit
1
Je weniger das Objekt seine Lust erweckte, desto besser spielte Glücklich die Verführerrolle, weil es ihm, sobald er die Wahrheit sagte, an Überzeugungskraft fehlte. Log er, verlieh ihm seine Phantasie einen sprühenden Charme.
»Wer die Kurve kratzt, den kann man nicht zur Liebe zwingen«, sagte Glücklich versöhnlich. »Das mit der alten Schachtel ist nicht deine Schuld.«
»Du hast mich geschlagen«, war Rosemaries Antwort. Sie hatte noch ein blaues Auge.
»Erbarmung. Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Mich nicht schlagen.«
»Aber Katzi, das mit der Liebe verstehst du nicht. Die ist unberechenbar.« Am liebsten wäre er ihr ins Gesicht gesprungen.
Schelmisch fuhr er fort: »Wenn's mich überkommt …«
»Versprich, daß du mich nicht mehr schlägst!«
»Ja.«
Eine hübsche Aufgabe war es nicht, das Weib bei der Stange zu halten. Wie es aussah, hatte sie den Schmuck selbst geklaut und hielt ihn irgendwo versteckt. Was will das blöde Stück damit? Keine drei Tage, nachdem sie versuchen würde, das Zeug an den Mann zu bringen, säße sie. Nur zu gut wußte er, wie schnell sich so was herumspricht. Nur nicht den Bogen überspannen, entschied er. Abwarten und den Ahnungslosen spielen. Sie wird schon weich werden, oder ich breche ihr alle Knochen. Vielleicht könnte ich ihr auflauern. Der Gedanke, sich auf ein langes Warten einzurichten, deprimierte ihn.
Glücklichs rasches, schlichtes Ja machte Rosemarie argwöhnisch.
»Schön«, sagte sie, »und wenn du es noch mal wagst?«
»Ich schwör's dir.«
»Du sollst meine Frage beantworten«, sagte sie unerbittlich.
»Wenn ich dir nur ein Härchen krümme, kannst du mich rauswerfen.«
Jetzt war sie ganz sicher, daß er log. Es war das erste Mal, daß er sich eine Blöße gab, bis jetzt war er der Gebieter, als ob sie bei ihm wohnte und nicht umgekehrt. Aber er führte was im Schilde. Hatte er erraten, daß sie die Juwelen besaß? Rosemarie verwarf diesen Gedanken. Der Kerl hockte immerzu hier, wenn er sich hinauswagte, dann im Dunkeln, zu einer Runde im Park, immer war sie dabei. Ihre innere Stimme warnte sie: Seine Scheinheiligkeit ist unkeusch, er will dich nur reinlegen.
Mit Katzenaugen verfolgte Glücklich, wie sie nach der Einkaufstasche griff und rief ihr nach: »Bring eine Flasche Schnaps mit und schau zu, daß du die Zeitung nicht wieder vergißt.«
»Wenn so spät noch eine zu bekommen ist«, sagte sie geistesgegenwärtig.
Die halbe Portion. Mit den Schuhen stieg er aufs Bett und steckte sich eine Zigarette an. Wenn man schon nach einem Weibe hungert, dann ein strammes, wo man was zu fassen kriegt.
2
Weil er in der letzten Zeit zu viel arbeitete, fühlte sich Thimm matt und zerschlagen. Dieser Zustand verursachte eine nervöse Reizbarkeit, die sich bei seinem Gespräch mit Bertram bemerkbar machte.
›Ich hätte ihm schon lange den Kopf waschen sollen‹, dachte Thimm, aber sein Instinkt warnte ihn, mit dem Thema fortzufahren. Bertram war blaß geworden, seine Nasenflügel bebten. Mit einem Male wurde Thimm klar, daß er sich um etwas bemühte, was nur noch in seiner Vorstellung existierte: ein früherer Bertram, dem seine Worte was gegolten hätten. Der jetzige Bertram war für seinen Tadel unempfindlich.
Als ob er es darauf anlegte, nur einer bestimmten Gesellschaftsschicht
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