Der Chefarzt
sinnlosen Dingen. Wie viele andere Priester drückte er in diesem Falle die Augen zu und verweigerte das Begräbnis nicht. Dieser arme Mensch konnte es nicht wissen.
Um sein Gewissen zu beschwichtigen, fragte Pater Hildebrand: »Warum habt ihr so lange gewartet?«
»Wir sparten das Geld zusammen … für eine große Hochzeit. Ich wollte zu Hause … in Neapel zeigen, zu was ich's gebracht habe. Ich habe ein Geschäft und eine deutsche Frau, eine blonde Frau.«
»Hast du mit deiner Frau darüber gesprochen?«
»Sie wollte warten, bis ich gesund bin. Die Ärzte sagen, es sei nicht gefährlich …«
»Du glaubst ihnen nicht?«
»Ich habe Angst, Reverendo. Es kommen immer mehr Ärzte, alle sagen gut, keiner schaut mir in die Augen.«
»Du sollst Gott vertrauen!«
»Ich möchte nicht verbrannt werden … wie ein Christ begraben … Wirst du uns trauen?«
»Wenn deine Frau und du es willst.«
»Sie kommt morgen«, sagte der Kranke, zum erstenmal verlor sein Gesicht etwas von der Strenge des Schwerkranken, »eine gute Frau, deutsche Frau …«
›Was tun die Ärzte bloß hier?‹ fragte sich Pater Hildebrand, als er die Intensivstation verließ, von einer merkwürdigen Unruhe erfüllt. Noch eine Weile sah er das Flimmern des Monitors vor sich. Erst spät am Abend kam ihm ein höchst beunruhigender Gedanke: ›Wird nicht auf dieser Station das menschliche Leben in bloße Funktionen zerlegt und degradiert?‹
Die kirchliche Trauung zwischen dem Gastarbeiter Antonio Dellonga und seiner Frau Sigrid, geborene Stolz, wurde am darauffolgenden Tag vom Kapuzinerpater Hildebrand vollzogen. In der kahlen Sachlichkeit der Intensivstation wirkte diese Handlung überhastet und trist.
4
Am Bett des Patienten Dellonga standen die Professoren Bertram und Holländer, jeder auf einer Seite. Eine Reihe von Ärzten schloß den Bogen am unteren Bettende.
Auf der Bettdecke lagen EKG-Streifen, Röntgenbilder und Protokolle des Krankheitsverlaufs ausgebreitet, die bis zur Brust des Kranken reichten. Bertram hatte sie studiert, jetzt ruhte sein Blick nachdenklich auf Antonios unrasiertem Gesicht. Gegen die Logik der soeben vorgetragenen Argumente verspürte Bertram einen Widerstand. Er hatte, wie es seine Art war, den Patienten systematisch untersucht, nur brachte seine Untersuchung keine neuen Gesichtspunkte. Dennoch, das spürte er, war etwas in diesem diagnostischen Aufbau falsch, ihm kam es vor, als verfolge er die ganze Zeit eine falsche Spur. Zum wiederholten Male sagte er sich: ›Die Erkrankung dieses jungen Mannes hat nach Überwindung des anfänglichen Schocks eine merkwürdige Wende erfahren. Wodurch?‹
Obwohl er sich der auf ihn gerichteten Blicke bewußt war, schwieg er.
»Es sind zwei unauffällige Tatsachen, die mir im Verlauf der ganzen Erkrankung merkwürdig vorkommen«, sagte er zu Holländer. »Die EKG-Verlaufsserie spricht für keine eigentliche Herzerkrankung. Ich meine die anfallfreien Intervalle. Auffallend ist das völlige Fehlen von sonstigen Symptomen …«
Holländers Lächeln wirkte gequält. »Sie meinen, kein festumrissenes Krankheitsbild.«
»Alle in Frage kommenden Möglichkeiten haben Sie selbst in Erwägung gezogen. Eine bakterielle Myokarditis erscheint mir …« Zu seiner eigenen Überraschung hörte sich Bertram sagen: »Gewiß, das ist es, woran ich … der Katheter in der Schlüsselbeinvene könnte die Wirkung eines Fremdkörpers haben, wenn er bis zum Vorhof vorgerutscht ist.«
»Er ist fixiert«, unterbrach Holländer kühl.
»Ich habe es selbst geprüft«, sagte Bertram, »nur die Markierung – wo ist die Markierung?!«
Holländer wurde blaß.
»Entfernen Sie den Katheter«, sagte Bertram.
Während einer der Ärzte mit Hilfe von Schwester Leopoldine Vorbereitungen traf, den Katheter zu entfernen, fügte Bertram hinzu: »Sicherheitshalber sollte man die Katheterspitze bakteriologisch untersuchen …« Zerstreut sah er, wie der Arzt den Katheter herauszog, fast gleichzeitig bäumte sich Antonios Körper im Bett auf, er riß die Augen auf und sackte zusammen. Er war tot.
»Herzmassage …« Um eine harte Unterlage zu haben, zerrte man Antonios Körper auf den Boden, alle knieten. Bertram legte seine Hände flach auf die Brust des Toten und drückte. Es krachte, die Rippen brachen.
Johannes Bertram und
die Macht über den Tod
1
Er hat keine Geschwister. Seine Kindheit ist behütet, er selbst – ein zurückhaltendes Kind, das altklug wirkt – flüchtet sich in Träume.
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