Der Chefarzt
versöhnlich und kompromißbereit. Zum erstenmal sprachen sie von einer gemeinsamen Zukunft, sie wollten sich nie mehr trennen. An diesem Abend faßten sie den Entschluß, ihr Leben grundlegend zu ändern. Sie wollten heiraten.
Bald zerstritten sie sich wieder. Aus einem nichtigen Anlaß und in blinder Wut lief er wieder davon, kehrte in seine Junggesellenwohnung zurück, wo sie am nächsten Tag voller Reue erschien.
Sie versuchten, sich wieder zu vertragen, und es klappte wieder nicht. Seit sie die Erfahrung gemacht hatten, daß sie einander brauchten, klappte es immer weniger. Sie strengten sich an, und es ging eine Zeit gut, nur war der Friede trügerisch. Eines Abends überraschte er sie, wie sie sich beim Tanzen von einem anderen leidenschaftlich küssen ließ. Er wußte, daß sie die Hölle erreicht hatten. Es war die Art Liebe, die tötete oder selbst starb.
5
Im Frühling des folgenden Jahres notierte Bertram: »Ein Gespräch, das wir zu dieser Zeit wiederholt führten. Sie: ›Warum heiraten wir nicht?‹ – Ich: ›Weil das Leben nicht nur aus Cocktailpartys besteht.‹ – Sie: ›Das Leben besteht ebensowenig nur aus Krebstumoren, Johannes.‹ – ›Mag sein‹, antwortete ich, ›jedenfalls nicht für jene, die noch keinen haben …‹
Ich sah alles sehr deutlich. Die ungewisse Karriere eines Hochschullehrers, der noch eine ganze Zeit Privatdozent bleibt und erst später außerplanmäßiger Professor wird, in untergeordneter Position, mit einem bescheidenen Verdienst, jedenfalls für Malvinas Lebensstil.
Ich sah mich, wie ich abends nach Hause hetzte, mich umzog, um mit Malvina zur nächsten Einladung zu eilen: zu Meier-Quillings, zu Noldens, zu Thönes und zu Schulzens … Das Leben bestand nicht aus Arbeit. Es bestand aus Konsum und Ansprüchen, aus gesellschaftlichen Verpflichtungen und Verflechtungen; es bestand aus Kumpanei und Saufen. Ohne den gesellschaftlichen Erfolg war hier niemand jemand.
Das Leben bestand aus Malvinas Lippen, die auf meinem Gesicht brannten, es bestand aus der Verzweiflung, mit der wir uns an unsere Liebe klammerten.
Das Leben bestand aus Haushypotheken und gepflegten Rasenflächen, aus Ärger mit Hausangestellten, aus Prestigeswimmingpools, aus Hedda Nolden, oder Cleopatra, die mit mir zu schlafen trachteten, aus Karl Nolden, der ein gottverdammter Schürzenjäger war und Malvina nachstieg. Das Leben bestand nur noch aus gesellschaftlichen Verpflichtungen …«
Eines Morgens wachte Bertram mit klarem Kopf auf, er verspürte einen unwiderstehlichen Drang zu arbeiten. Im Bad betrachtete er mit den Augen eines Fremden sein aufgedunsenes Gesicht. Gedankenlos rasierte er sich, packte anschließend seine Toilettensachen ein und verstaute sie in die alte Aktentasche, mit der er in die Klinik ging; er pfiff leise vor sich hin.
Ohne einen Blick auf die noch schlafende Malvina zu werfen, verließ er die Wohnung.
Draußen schien die Sonne, nur spendete sie noch keine Wärme.
Mit schneller werdenden Schritten ging Bertram die Straße hinunter. Es kam ihm vor, als ob er nach einer langen Erkrankung gerade genesen wäre.
6
Im Herbst kommen die Studenten aus den Ferien zurück. Die Bäume auf der Universitätsstraße sind noch belaubt, die Natur wirkt schwer und farbenprächtig, die Tage werden kürzer, die Abende sind frisch und mit der leichten Schwermut des vergangenen Sommers behaftet.
»Was willst du, Johannes?« fragt Malvina.
Was er wollte? Da war die bedauerliche Geschichte mit dem Kollegen Osswald, dem ersten Oberarzt der Klinik und Stellvertreter des Alten, der an einem Herzinfarkt während seines Griechenlandurlaubs starb, auf der Akropolis. Ein schöner Tod.
Sein Posten war frei.
›Seine Stelle will ich haben‹, denkt er.
Nach seiner Rückkehr aus Amerika bekleidete er den Posten eines Oberarztes. Ihm unterstand die gastroenterologische Ambulanz.
Eine bescheidene Position.
›Keine schlechte Position‹, denkt er, ›für ihn, den Gesellschaftslöwen, den Liebhaber, für einen Mann, der seine Tage mehr schlecht als recht hinter sich brachte.‹ Wenn er nur nicht von seinem Gewissen geplagt würde. Was war aus seinen Träumen geworden? Er stöhnt im Schlaf, dreht sich heftig um und wird wach. Er schwitzt und spürt sein Herz, dann greift er mit flacher Hand unter seinen rechten Rippenbogen, atmet tief ein, versucht seine Leber abzutasten. Er liegt mit offenen Augen in der Dunkelheit und kann nicht mehr einschlafen. Er denkt: ›Es hat dich
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