Der Chinese
warum der Wirt die Namen dieser beiden nicht nennen wolle?
– Das Meitschi solle schwyge! Es sei nicht gut, wenn man zuviel rede. Studer aber beschloß, das Mädchen bei der nächsten Gelegenheiten auszuholen. Vorläufig beschränkte er sich auf die Frage:
»Säg Brönnimaa… Warum hescht du Angscht?«
Ein Hustenanfall war die Antwort. Und dann stotterte der Wirt:
»Ig? Wachtmeister, ig Angscht?«
»Ja, du!« sagte Studer trocken und deutete mit seinem Zeigefinger auf die hohle Brust des Alten. Wie verschieden doch die Menschen waren! Die einen mußte man ihren, die anderen siezen – und schließlich gab es solche, die erst auspackten, wenn man sie duzte…
– Er habe doch keine Angst, protestierte der Wirt. Das wäre ja lächerlich. Angst haben!… Und dann stand der Uralte auf, trippelte zur Tür, riß sie auf und schmetterte sie von draußen zu…
Der Gebrauch des familiären Du hatte seine Wirkung verfehlt. Studer stand auf.
»Komm, Huldi!« sagte er. »Zeig mir das Zimmer des Toten.«
»Aber gället, Wachtmeister, ihr verhaftet ihn nicht?«
Aha! Es war also jemand im Haus, der kein gutes Gewissen hatte… Nicht der Wirt – die Saaltochter hätte ihn sicher gern einsperren lassen – nein, ein anderer… Wer? Etwa derjenige, von dem der ›Chinese‹ an jenem Juliabend gesprochen hatte? »Denn soviel ich heute erfahren habe, ist noch ein Bursche im Haus, den ich Ihnen nicht habe vorstellen können…« Merkwürdig, wie gut man sich noch an den Satz erinnerte… Studer tat, als habe er das Mädchen mißverstanden:
»Neinei, Meitschi! Tote verhaft' ich nicht!«
»Eh, Ihr wissed scho, Wachtmeister, wen ich meine…«
»Ich? Ich weiß gar nüd!…«
Huldi Nüesch, die ihre braunen Zöpfe wie Kränze um den Kopf trug, ging voran. Studer folgte. Es ging durch einen Gang, der mit roten Fliesen belegt war – weißer Sand war darüber gestreut. – Die Serviertochter öffnete eine Türe links; dann traten beide ins Zimmer des toten ›Chinesen‹.
»Finger ab de Röschti!«
Der Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Huldi –. Bei all dem Gestürm sei sie nicht dazugekommen, das Zimmer zu machen.
Studer pflanzte sich mitten im Raume auf, vergrub die Hände in den Taschen seines Überziehers, blickte um sich und meinte, er sei froh, daß nichts angerührt worden sei…
Das Bett sah aus, als habe ein Kampf auf ihm stattgefunden. Die Leintücher, die Wolldecke lagen auf dem Boden. Die Flügel des Fensters waren geschlossen. Ein Koffer, der mit den Etiketten vieler Hotels aus allen Ländern der Erde beklebt war, stand in der Mitte des Zimmers; aber er war leer.
Auch auf der Tischplatte lag nichts; Studer suchte im Schaft, im Nachttisch, unter der Matratze. – Die Wachstuchhefte, an die er sich gut erinnerte, waren verschwunden.
Warum hatte man diese Hefte gestohlen? Was enthielten sie Wichtiges?
»Huldi«, fragte der Wachtmeister sanft, »du erinnerst dich doch an die Hefte, in die der Farny geschrieben hat? Hast du einmal in einem gelesen und weißt du, was drinnen gestanden ist?«
Das Mädchen nickte, nickte… und dann sagte es im Tonfall, in dem man eine auswendig gelernte Lektion aufsagt: »Als wir 1912 Hongkong verließen, gerieten wir in einen Taifun. Wir hatten Reis geladen für Bangkok und Kulis für Sumatra. Ich gab meinem ersten Offizier die Weisung, die Kulis unter Deck in einem Raume einzuschließen…«
»Das langt«, sagte Studer. »An etwas anderes erinnerst du dich nicht?«
»Das Heft, in das er zuletzt geschrieben hat, ließ er nie offen herumliegen, sondern schloß es immer in seinen Koffer ein. Aber einmal hab ich doch einen Blick darein werfen können und da las ich: ›Wen Gott strafen will, dem schenkt er Verwandte.‹«
»Hat der Satz genau so gelautet?« fragte Studer. Die Serviertochter nickte.
Und während ihres Nickens zersplitterte eine Scheibe des Fensters.
»Was ist denn das?« fragte Studer. 's Huldi trat ans Fenster, riß die Flügel auf und blickte in den nebligen Nachmittag. – Sie sehe nichts, behauptete sie. Wütend packte der Wachtmeister sie am Arm und riß sie zurück. – Einer habe ins Zimmer geschossen, erklärte er böse und rückte das Meitschi auf einen Stuhl; dort saß es dann, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht in die Hände vergraben.
»G'schosse?« fragte es. » G'schosse!«
»Ja, g'schosse!« bestätigte Studer ungeduldig. Er lief im Zimmer her und hin, die Blicke auf den Boden gerichtet, suchte – und fand
Weitere Kostenlose Bücher