Der Chinese
Wetten ab und beobachteten dann die Kämpfe um die Vorherrschaft über die Herde, bis einer der Hengste am Ende mit schäumendem Maul auf der Kuppe eines Hügels stand und sich als der Stärkste erwiesen hatte.
Ya Ru kam ständig auf die Tiere zurück, wenn er sein eigenes Verhalten und das anderer verstehen wollte. Er war der Leopard, und er war auch der Hengst, der sich durchkämpfte, bis er der alleinige Kaiser war.
Wenn Deng die farblose Katze war, die erfolgreicher Mäuse jagte als andere, war Mao die Eule, der denkende, aber auch der eiskalte Raubvogel, der wusste, wann er lautlos zuschlagen musste, um seine Beute zu packen.
Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als Birgitta Roslin aufstand. Eins war ihm im Verlauf des Tages, an dem er sie verfolgt hatte, deutlich geworden. Sie hatte Angst. Sie sah sich ständig um, unruhige Gedanken strömten unablässig durch ihren Kopf. Diese Erkenntnis würde er sich zunutzemachen, auch wenn er noch nicht entschieden hatte, wie. Jetzt stand sie auf. Ya Ru wartete im Schatten. Plötzlich geschah etwas, worauf er völlig unvorbereitet war. Birgitta Roslin zuckte zusammen, stieß einen Schrei aus, geriet rücklings stolpernd ins Wanken und schlug hart mit dem Kopf auf einer Bank auf. Ein chinesischer Mann blieb stehen und beugte sich zu ihr, um zu sehen, ob sie verletzt war. Menschen sammelten sich. Ya Ru trat aus dem Schatten und näherte sich der Gruppe, die sich um die am Boden liegende Frau gebildet hatte. Zwei Streifenpolizisten eilten hinzu. Ya Ru drängte sich vor, um besser sehen zu können. Birgitta Roslin hatte sich aufgesetzt. Anscheinend war sie für einige Augenblicke bewusstlos gewesen. Sie hörte die Polizisten fragen, ob sie einen Krankenwagen brauche, aber sie lehnte ab.
Es war das erste Mal, dass Ya Ru ihre Stimme hörte. Er merkte sich den Klang, es war eine dunkle und ausdrucksvolle Stimme.
»Ich muss gestolpert sein«, hörte er sie sagen. »Ich dachte, jemand käme auf mich zu, ich habe Angst bekommen.« »Sind Sie überfallen worden?«
»Nein. Es war nur Einbildung.«
Der Mann, der sie so erschreckt hatte, stand noch immer da. Ya Ru fand, dass eine gewisse Ähnlichkeit bestand zwischen Liu und diesem Mann, der aus reinem Zufall in eine Geschichte eingetreten war, mit der er überhaupt nichts zu tun hatte.
Ya Ru lächelte. Sie erzählt mir viel durch ihre Reaktionen. Zuerst erzählt sie mir von ihrer Angst und ihrer Wachsamkeit. Jetzt zeigt sie ganz deutlich, dass sie sich vor einem Chinesen fürchtet, der auf sie zukommt.
Die Polizisten geleiteten Birgitta Roslin zurück ins Hotel. Ya Ru folgte in einem gewissen Abstand. Jetzt wusste er, wo sie wohnte. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatten, dass sie allein zurechtkommen würde, gingen die Polizisten davon, während sie den Hoteleingang betrat. Ya Ru sah, dass die Frau in der Rezeption den Schlüssel, den sie ihr gab, aus einem der obersten Fächer nahm. Er wartete ein paar Minuten, bevor er hineinging. Die Frau an der Rezeption war Chinesin.
Ya Ru verneigte sich und reichte ihr ein Stück Papier. »Die Dame, die gerade hereingekommen ist. Sie hat dies auf der Straße verloren.«
Die Chinesin nahm das Papier entgegen und legte es in das leere Fach. Es war die Zimmernummer 614, im obersten Stock des Hotels.
Es war ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ya Ru stellte sich vor, dass Birgitta Roslin fragen würde, wer es für sie abgegeben habe. Ein Chinese, würde die Antwort lauten. Und sie würde noch panischer werden, aber auch wachsamer. Nachdem er dies erkannt hatte, bedeutete es kein Risiko mehr für ihn.
Ya Ru tat, als läse er in einer Hotelbroschüre, während er überlegte, wie er herausfinden könnte, bis wann Birgitta Roslin ihr Hotel gebucht hatte. Die Gelegenheit ergab sich, als die Chinesin am Empfang in einem Hinterzimmer verschwand und eine junge Engländerin ihren Platz einnahm. Ya Ru trat an das Empfangspult. »Frau Birgitta Roslin«, sagte er, »aus Schweden. Ich soll sie zum Flugplatz fahren. Aber es ist nicht klar, ob es morgen oder übermorgen sein soll.« Die Frau schöpfte keinen Verdacht und sah am Computer nach. »Frau Roslin hat für drei Nächte gebucht. Soll ich sie anrufen, damit Sie die Uhrzeit verabreden können?« »Das kläre ich mit unserem Büro. Wir stören unsere Kunden nicht unnötig.«
Ya Ru verließ das Hotel. Der Nieselregen hatte wieder eingesetzt. Er schlug den Kragen hoch und ging
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