Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
erzählen.«
Kaede merkte, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Wochenlang war sie von Trauer und Verzweiflung betäubt gewesen. Sie hatte sich in jene eisige Erstarrung zurückgezogen, die sie gerettet hatte, als sie noch jung und unverheiratet gewesen war. An diesem Ort erinnerte alles mit neuer Deutlichkeit an Takeo. Sie hatte unbewusst die Illusion gehegt, dass er hier wäre, obwohl sie von seinem Tod gehört hatte. Nun begriff sie, wie dumm diese Illusion gewesen war, denn er war nicht hier. Er war tot und sie würde ihn niemals wiedersehen.
Die Glocke des Tempels erklang und sie hörte Schritte auf den HolzfuÃböden. Gemba sagte: »Am besten, wir gehen in die Haupthalle. Ich lasse ein Kohlenbecken und etwas Tee bringen. Sie sehen aus, als ob Sie frieren.«
Seine Freundlichkeit lieà sie zusammenbrechen. Die Tränen strömten über ihre Wangen. Auch Chikara begann zu schluchzen.
Sunaomi, der gegen seine Tränen kämpfte, sagte: »Nicht weinen, Bruder. Wir müssen tapfer sein.«
»Kommt«, sagte Gemba. »Ihr bekommt jetzt etwas zu essen und unser Abt wird mit Lady Otori reden.«
Sie standen unter der Arkade des Haupthofes. Kaede sah Makoto von der anderen Seite auf sich zukommen. Er rannte fast auf dem Kiesweg, der zwischen den kahlen Kirschbäumen verlief. Seine Miene überwältigte sie, und sie bedeckte ihr Gesicht mit einem Ãrmel.
Makoto ergriff sie beim anderen Arm und stützte sie, als er sie sehr sanft in die Halle mit den Bildern Sesshus führte.
»Wir sollten uns einen Augenblick setzen«, sagte er. Ihr Atem wölkte weiÃ. Ein Mönch kam mit einem Kohlenbecken und kehrte kurz darauf mit Tee zurück, doch keiner von beiden trank etwas.
Kaede, die um Worte rang, sagte: »Zuerst muss ich Ihnen von den Jungen erzählen. Vor einem Monat wurde Zenko von Saga Hideki und Miyoshi Kahei umzingelt und besiegt. Meine älteste Tochter Shigeko ist mit Lord Saga verlobt. Sie werden am Neujahrstag heiraten. Alle Drei Länder gehen an Lord Saga über und werden unter der Oberherrschaft des Kaisers mit dem Rest der Acht Inseln vereinigt. Takeo hat ein Testament mit seinen Bedingungen hinterlassen und Saga hat allem zugestimmt. Shigeko wird die Drei Länder gleichberechtigt mit ihm regieren. Maruyama wird weiter über die weibliche Linie vererbt werden, und Saga hat versprochen, dass sich nichts an der Art ändert, auf die wir regiert haben.«
Sie verstummte kurz.
»Das ist ein gutes Ergebnis«, sagte Makoto sanft. »Takeos Vision bleibt erhalten, und die Kämpfe der Kriegsherren untereinander dürften damit vorbei sein.«
»Zenko und Hana wurde befohlen, sich das Leben zu nehmen«, fuhr Kaede fort. Indem sie über diese Dinge sprach, gewann sie ihre Selbstbeherrschung ein Stück weit zurück. »Vor ihrem Tod hat meine Schwester ihren jüngsten Sohn getötet, weil sie ihn nicht allein zurücklassen wollte. Aber ich konnte Lord Saga durch meine Tochter überreden, Sunaomi und Chikara unter der Bedingung zu verschonen, dass sie hier erzogen werden. Saga ist kaltblütig und pragmatisch: Solange sie niemandals Vorwand für einen Aufstand einsetzt, sind sie sicher. Doch wenn sich so etwas abzeichnen sollte, wird er sie töten lassen. Natürlich werden sie ihren Namen verlieren, denn die Arai sollen ausgelöscht werden. Die Fremden wird man vertreiben und ihre Religion verbieten. Ich nehme an, die Verborgenen werden wieder untertauchen müssen.«
Sie dachte an Madaren, Takeos Schwester. Was wird aus ihr werden? Ob Don João sie mitnimmt? Oder wird man sie wieder ihrem Schicksal überlassen?
»Natürlich sind die Jungen hier willkommen«, sagte Makoto. Danach schwiegen sie beide.
SchlieÃlich sagte Kaede: »Lord Makoto, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe immer Abneigung, ja sogar Feindseligkeit für Sie empfunden, aber jetzt sind Sie von allen Menschen auf der Welt der Einzige, bei dem ich sein möchte. Darf auch ich eine Weile hierbleiben?«
»Sie dürfen so lange bleiben, wie Sie wollen. Ihre Anwesenheit ist ein Trost für mich«, antwortete er. »Wir haben ihn beide geliebt.«
Sie sah, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Er griff hinter sich und holte eine Schriftrolle aus einer Kiste, die auf dem FuÃboden stand. »Ich habe versucht, die Ereignisse wahrheitsgemäà aufzuschreiben. Lesen Sie es, wenn
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