Der Code des Luzifer
und binnen einer Stunde legte die kristallklare Nacht tiefen Frost über das Land und Max’ gekrümmten Körper.
Dann kamen die Wölfe.
Schweigen kann man kaufen. Unliebsame Ereignisse kann man mit Halbwahrheiten und wissenschaftlichen Erklärungen entsprechend auslegen. Bei dem Kampf, den Corentin und Thierry ganz allein in dem Berg ausgefochten hatten, hatte es über ein Dutzend Tote gegeben. Nach offizieller Darstellung gehörten sieben dieser Männer zu einer Bergsteigergruppe, die an der berüchtigten Nordwand der Zitadelle in Schwierigkeiten geraten war. Angeblich wurden die unerfahrenen Kletterer von einem kleinen Erdbeben überrascht, das die Region in dieser Nacht erschütterte, und fünf Retter starben bei dem Versuch, sie von dem Berg herunterzuholen. Eine Tragödie.
Ein Dorf am Fuß des Bergs trug erhebliche Sachschäden davon, aber zum Glück gab es keine Todesopfer. Aus dem Forschungszentrum, das die seismischen Aktivitäten der Zitadelle überwachte, wurde eine ungenannte Zahl von Wissenschaftlern gerettet, was die Anwesenheit von Schweizer und französischen Soldaten in dem Gebiet erklärte – ein wunderbares Beispiel für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wie ein Regierungssprecher es formulierte. Die Wahrheit war, dass man Tischenkos Wissenschaftler in geheimen Einrichtungen festgesetzt hatte, um sie auf ihren Geisteszustand hin zu untersuchen.
Der Klimawandel und eine außerordentliche Wetterlage mussten schließlich als Erklärung für alles andere herhalten.
»Wach auf, Junge«, sagte Corentin grob.
Er schüttelte Max, wischte Reif und Schnee von seinem Körper, tätschelte ihn so freundlich, wie es jemandem wie Corentin nur möglich war, bis Max endlich erwachte.
»Ist ja gut, alles in Ordnung … Corentin … Was ist passiert?«, fragte Max benommen.
Der große Mann hob ihn auf die Füße.
»Die Kavallerie ist wie üblich zu spät gekommen, wird aber den ganzen Ruhm einheimsen«, sagte Thierry. »Wie immer.« Max erinnerte sich an Tischenkos Tod. »Wo ist der Hai?« »Wer?«, fragte Corentin.
»Da war ein Junge. Er hat Tischenko getötet.«
»Gib ihm einen Orden«, sagte Thierry. »Aber hier war niemand außer dir und den Wölfen.«
»Ein Rudel Wölfe?«, fragte Max.
»Ganz genau. Und ein Eisbär. Der wollte dich unbedingt zum Frühstück verspeisen«, sagte Corentin.
»Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte Max verzweifelt.
»Die Wölfe hatten dich eingekreist, und der größte von ihnen …«
»Ein übler Geselle«, unterbrach Thierry lachend seinen Partner, während sie Max zu dem Audi brachten.
»Der hat keinen an dich rangelassen – und das Rudel, na ja, so etwas habe ich noch nie gesehen, aber die haben diesen Eisbären von dir ferngehalten.«
»Sie haben die Wölfe doch nicht getötet?«, fragte Max, plötzlich beunruhigt.
»Ein paar Schüsse in die Luft. Das Alpha-Männchen hat seinen Posten bis zum Ende behauptet, aber als Corentin dann mit ihm geredet hat wie mit seinem Pudel zu Hause, hat es sich schließlich auch verzogen.«
»Ich habe weder einen Pudel noch sonst irgendeinen Hund. Red keinen Unsinn«, seufzte Corentin, als er Max auf den Beifahrersitz des Audi half.
Noch nie war Max so dankbar gewesen, dass ihn jemand nach Hause fuhr. Er fühlte sich, als sei er unter eine Dampfwalze geraten.
»Ich sitze vorne«, sagte Thierry leise zu Corentin, der schon zur Fahrerseite ging.
Max sah Corentin grinsen.
»Hinten wird mir schlecht«, sagte Max.
»Mir auch. Steig aus«, befahl Thierry.
»Lass ihn. Ich will nicht, dass der Wagen vollgekotzt wird«, sagte Corentin. »Der Junge hat schon genug mitgemacht.«
Er reichte Max eine Wasserflasche, und der trank in großen Schlucken.
»Und wenn ich mich übergeben muss?«, sagte Thierry. »Dann schluck’s runter«, erwiderte Corentin und ließ den Motor an.
Thierry zwängte sich auf den Rücksitz. »Ich muss aber das Fenster aufmachen.«
»Nur zu.« Corentin steuerte den Wagen aus dem verwüsteten Gelände heraus. Die Winterreifen knirschten über den Schnee.
»Und nimm die Kurven nicht so schnell«, ermahnte ihn Thierry.
»Halt die Klappe.«
Mehr bekam Max von dem Geplänkel der beiden Söldner nicht mehr mit. Er fiel in einen tiefen Schlaf und erwachte sechzehn Stunden später in einer Schweizer Privatklinik.
Der Reiz der Schweiz liegt nicht nur in ihrer großartigen Landschaft, sondern auch in ihren Geheimhaltungsvorschriften. Alles wurde vertuscht. Jeder, der irgendwie mit Max’ Fall zu tun
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