Die Falken Gottes
|7| Kapitel 1
Eiligen Schrittes kämpfte sich Anneke durch das sperrige Unterholz des Waldes, bis sie den Bachlauf erreichte, in dem die Sonnenstrahlen, die sich durch die Baumkronen zwängten, im dahinströmenden Wasser funkelten. In der Nähe hörte sie eine Amsel singen. Ein sanfter Windhauch streichelte an diesem Spätsommertag über ihr Gesicht. Anneke schaute sich um und befand, daß dies ein guter Ort war, um die freie Zeit zu nutzen, die ihr der Schankwirt Seybert Monsbach gewährt hatte.
Sie setzte sich an den Bach, streifte ihre Holzpantinen ab und tauchte die schmutzigen Füße in das kühle Wasser. Aus ihrer Schurztasche zog sie ein Büchlein mit abgegriffenem Ledereinband hervor. Es war das Gebetbuch ihrer Dienstherrin. Anneke bereitete es Unbehagen, sich vorzustellen, welche Strafe sie erwarten würde, wenn Lucia Monsbach erfahren sollte, daß ihre Magd das Buch aus der Eichentruhe in ihrer Schlafkammer entwendet hatte. Auch wenn die Seiten des Gebetbuches bereits vergilbt und zum Teil eingerissen waren und der speckige Ledereinband an mehreren Stellen so dünn schimmerte, daß man die dahinterliegende Pappe erkennen konnte, wachte die Monsbach-Wirtin über dieses Buch – das einzige, das sich im ganzen Haus befand – so gewissenhaft, als hinge ihr Seelenheil von den bedruckten Seiten ab.
Stockhiebe, Ohrfeigen oder eine ohrenbetäubende Strafpredigt, deren Tonlage in etwa dem Bellen eines Hundes entsprach – Anneke vermied es, sich weitere Konsequenzen für ihr Vergehen auszumalen. All diese Strafen hatte sie schon |8| für weit geringere Nachlässigkeiten über sich ergehen lassen müssen, und sie war nicht die einzige, die auf diese Weise unter den Launen der Monsbacherin litt. Sogar der Schankwirt Seybert bekam beizeiten den Jähzorn seines Eheweibes zu spüren. Es hieß, die Frau sei dem Manne untertan, weil Gott sie aus der Rippe Adams geschaffen habe. Nun, Anneke nahm an, daß dies für Lucia Monsbach nicht zutraf. Wenn Anneke die Monsbach-Wirtin und ihren Ehemann zusammen sah, kam ihr keine Rippe in den Sinn, sondern der Fuß, mit dem ihre Dienstherrin Seybert häufig in den Hintern trat.
Seybert war im Grunde ein gutmütiger Mensch. Er wirkte ein wenig grobschlächtig, und sein Gesichtsausdruck erinnerte Anneke an einen Ochsen. Sie war vor nunmehr fast zwei Jahren als Magd in die Dienste der Monsbachs getreten, und schon vom ersten Tag an war ihr nicht verborgen geblieben, wie oft er sie verstohlen anstarrte, wenn sein Weib sich nicht in der Nähe aufhielt. Dann und wann passierte es auch, daß er Anneke so nah kam, daß sie wie zufällig von seinem Oberarm oder seinem Knie gestreift wurde. Es hatte daher nicht lange gedauert, bis Anneke begriffen hatte, daß Seybert ihr so manchen Vorteil verschaffen würde, wenn sie nur ein wenig nett zu ihm war.
Obwohl Anneke die Nähe des rotwangigen und froschäugigen Schankwirtes anwiderte, spielte sie hin und wieder mit seiner allzu offensichtlichen Begierde. Sie zwinkerte ihm kokett zu oder lächelte scheu, was ihn schließlich ermunterte, sie stärker zu bedrängen.
Anneke hatte Seybert niemals zwischen ihren Beinen liegen lassen. Mit ihren siebzehn Jahren legte sie keinen Wert darauf, ihre Jungfräulichkeit an diesen plumpen Mann zu verlieren. Sie gestattete ihm auch nicht, sie zu küssen, selbst wenn er oftmals wie ein Kind darum bettelte. Doch sie trotzte ihm Gefälligkeiten ab, indem sie es zuließ, daß er sie berühren und an ihrer Haut riechen durfte.
|9| Zumeist bestanden diese Aufmerksamkeiten darin, daß Seybert ihr aus der Stadt Honiggebäck oder kandierte Früchte mitbrachte. Er hatte seine knauserige Frau sogar davon überzeugt, Anneke für den Kirchgang am Sonntag neu einzukleiden, damit sie an diesen Tagen das abgewetzte Wollhemd ablegen konnte, das sie für gewöhnlich ständig trug und dem schon seit Monaten allzu deutlich der muffige Geruch ihres Schweißes und der Stallarbeit anhing.
Selten kam es vor, daß Seybert es ihr erlaubte, ihre Arbeit für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen. Natürlich war dies nur möglich, wenn Lucia die Schenke für mehrere Stunden verließ – so wie auch heute, als die Wirtin in der Früh aufgebrochen war, um ihre erkrankte Schwester im nahen Ort Hagen aufzusuchen.
Anneke küßte den Ledereinband des Buches und bat Gott um Vergebung für die Sünde, die sie begangen hatte, damit sie sich mit diesem Buch in den Wald zurückziehen konnte. Sie hoffte, der Allmächtige würde Verständnis dafür
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