Der Codex
Borabays zerstampfte ein junger Tara-Medizinmann in einer Ecke der Hütte Kräuter.
Tom legte seinem Vater eine Hand auf die Stirn. Seine Temperatur war gestiegen. Die Berührung bewirkte, dass Maxwell Broadbent die Augen öffnete. Sein Gesicht war eingefallen, seine Augen schimmerten fiebrig im Schein des Feuers. Doch er brachte ein Lächeln zustande. »Sobald es mir besser geht, will Borabay mir zeigen, wie die Tara mit dem Speer fischen.«
Borabay nickte.
Broadbents ruheloser Blick schweifte über die Anwese n den hinweg, als bitte er um Zustimmung. »Na, Tom? Was meinst du dazu?«
Tom hätte gern etwas gesagt, bekam aber irgendwie ke i nen Ton heraus.
Der junge Medizinmann stand auf und hielt Broadbent einen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllten Tonb e cher hin.
»Nicht schon wieder dieses Zeug«, murmelte Broadbent. »Das ist ja schlimmer als der Lebertran, den meine Mutter mir jeden Morgen eingeflößt hat.«
»Trink, Vater«, sagte Borabay. »Gut für dich.«
»Was ist das?«, fragte Broadbent.
»Medizin.«
»Das weiß ich selbst. Aber was für 'ne Medizin? Du kannst doch nicht erwarten, dass ich etwas schlucke, das ich nicht kenne.«
Maxwell Broadbent entpuppte sich als schwieriger Pat i ent.
»Das ist Una de gavilán, Uncaria tomentosa. Die getrocknete Wurzel von Katzendorn ist ein Antibiotikum.«
»Na ja, weh wird's wohl nicht tun.« Broadbent nahm den Becher entgegen und trank. »Sieht aus, als hätten wir hier 'ne Ärzteschwemme. Sally, Tom, Borabay, und jetzt noch der junge Hexendoktor. Man könnte fast meinen, ich hätte was Ernstes.«
Tom schaute Sally kurz an.
»Was wir alles zusammen unternehmen werden, wenn's mir erst besser geht!«, sa g te Broadbent.
Tom schluckte erneut. Als sein Vater sein Unbehagen bemerkte - ihm entging nie etwas -, schaute er ihn an. »Nun, Tom? Du bist der einzige echte Arzt hier. Wie steht's mit 'ner Prognose?«
Tom versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. Sein Vater schaute ihn ziemlich eindrin g lich an, dann lehnte er sich mit einem Seufzer zurück. »Wen versuch ich eigentlich zu verarschen?«
Langes Schweigen machte sich breit.
»Hör zu, Tom, ich weiß, dass der Krebs mich umbringt. Was Schlimmeres kann's doch nicht geben.«
»Nun«, begann Tom, »die Kugel hat deine Bauchhöhle getroffen. Du hast eine I n fektion. Deswegen hast du auch Fieber.«
»Und die Prognose?«
Tom schluckte erneut. Seine drei Brüder und Sally m u sterten ihn konzentriert. Er wusste, dass sein Vater sich nicht mit irgendwelchem Geschwafel abspeisen lassen würde. Er wollte die ungeschminkte Wahrheit hören.
»Sieht nicht gut aus.«
»Erzähl weiter.«
Tom brachte es nicht über sich, es auszusprechen.
»Ist es so schlimm?«, fragte sein Vater.
Tom nickte.
»Und was ist mit den Antibiotika, die der Medizinmann mir gibt? Und was ist mit all den wunderbaren Heilmitteln, die in dem Codex stehen, den du gerettet hast?«
»Gegen die Blutvergiftung, die du dir zugezogen hast, wirkt kein Antibiotikum, Vater. Dazu müsste man eine umfassende Operation vornehmen, und für die ist es nun wahrscheinlich zu spät. Medikamente können nicht alles.«
Wieder Schweigen. Broadbent wandte sich um und schaute auf. »Verdammt«, sa g te er zur Decke hin.
»Du hast die für uns bestimmte Kugel aufgefangen«, sa g te Philip. »Du hast uns das Leben gerettet.«
»Das Beste, was ich je getan habe.«
Tom legte seinem Vater eine Hand auf den Arm. Er war sehr heiß. »Tut mir Leid.«
»Wie lange hab ich also noch?«
»Zwei bis drei Tage.«
»Herrgott. So wenig?«
Tom nickte.
Broadbent lehnte sich mit einem Seufzer zurück. »In ein paar Monaten hätte der Krebs mich sowieso erledigt. Andererseits wäre es natürlich verdammt schön gew e sen, diese Zeit mit meinen Söhnen zu verbringen, 'ne Woche hätte mir gereicht.«
Borabay trat vor und legte Broadbent eine Hand auf die Brust. »Mir Leid tun, V a ter.«
Broadbent legte seine Hand auf die Borabays. »Mir auch Leid tun.« Er musterte seine anderen Söhne. »Wenn ich mir doch nur noch mal den Lippi ansehen könnte ... Als ich in der Gruft war, hab ich mir immer eingebildet, wenn ich noch mal einen Blick auf die Madonna werfe, kommt alles wieder in Ordnung.«
Sie verbrachten die Nacht in der Hütte und wachten über ihren im Sterben liege n den Vater. Er war nervös, aber die Antibiotika hielten die Infektion - jedenfalls im Moment - weitgehend in Schach. Als der Morgen graute, war der alte Mann noch immer bei klarem
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