Der Codex
und betätigte mehrmals die Klingel. Vernon und Tom folgten ihm.
Es herrschte absolute Stille.
Philip, wie immer ungeduldig, drückte zum letzten Mal auf den Knopf. Tom hörte das dumpfe Läuten drinnen im Haus. Die Töne erinnerten ihn an die ersten Akkorde des Liedes »Marne«. Seiner Meinung nach wäre dies für den bizarren Humor ihres Vaters typisch gewesen.
Philip legte die Hände an den Mund und rief: »Hallooo!«
Noch immer tat sich nichts.
»Glaubt ihr, er ist krank?«, fragte Tom. Das unbehagliche Gefühl in seinem Innern wurde stärker.
»Ach was«, sagte Philip ärgerlich. »Das ist nur wieder eins von seinen Spielchen.« Er schlug so fest mit der geballten Faust auf die massive mexikanische Tür ein, dass es laut krachte.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Als Tom sich umschaute, fiel ihm auf, dass der Hof leicht heruntergekommen wirkte: Der Rasen war nicht gemäht. In den Tulpenbeeten wuche r te Unkraut.
»Ich schau mal durch ein Fenster«, sagte er.
Er bahnte sich seinen Weg durch eine gestutzte Chamisa-Hecke, durchquerte auf Zehenspitzen ein Blumenbeet und lugte durch das Wohnzimmerfenster. Irgendetwas war eindeutig anders, aber er brauchte eine Weile, bis es ihm dämmerte. Der Raum wirkte normal: Er sah die gleichen Ledersofas und Ohrensessel wie immer und auch den gleichen Steinkamin und den gleichen Kaffeetisch. Aber über dem Kamin hatte ein großes Gemälde gehangen, das nun fehlte. Welches, wusste er nicht mehr genau. Tom dachte ang e strengt nach. Der Braque? Oder der Monet? Dann fiel ihm auf, dass die altrömische Bronzestatue, die einen Knaben darstellte, ebenfalls fehlte. Sie hatte bisher auf der linken Kaminhälfte Hof gehalten, das Bücherregal wies Lücken auf. Bücher waren herausgenommen worden. Der Raum wirkte unordentlich. Hinter dem Türrahmen, der in den Korridor führte, lag Müll auf dem Boden: zerknülltes P a pier, ein Blisterverpackungsstreifen, eine herrenlose Rolle Klebeband.
»Wie stehen die Aktien, Alter?«, rief Philip um die Ecke.
»Schau's dir lieber selbst mal an!«
Philips spitze Ferragamo-Schuhe bahnten sich ihren Weg durch die Büsche. Seine Miene zeigte Verärgerung. Vernon kam hinter ihm her.
Philip lugte durch das Fenster und schnappte nach Luft. »Der Lippi«, keuchte er, »über dem Sofa. Er ist weg. Und der Braque über dem Kamin auch! Er hat alle Bilder abg e hängt! Er hat sie verkauft!«
»Reg dich nicht auf, Philip«, sagte Vernon. »Vermutlich hat er das Zeug nur weggepackt. Vielleicht will er umzi e hen.
Du liegst ihm doch seit Jahren in den Ohren, dass das Haus zu groß für ihn und zu abgelegen ist.«
Philips Miene entspannte sich augenblicklich. »Ja, stimmt. Hast Recht.«
»Wahrscheinlich ist das auch der Grund für diese mysteriöse Zusammenkunft«, meinte Vernon.
Philip nickte und tupfte sich mit einem Seidentaschentuch die Stirn ab. »Der Flug hat mich wahrscheinlich ermüdet. Du hast Recht, Vernon. Natürlich sind sie beim Packen. Aber welche Unordnung die hinterlassen haben! Wenn V a ter das sieht, kriegt er einen Anfall.«
Als die drei Brüder da so zwischen den Büschen standen und sich anschauten, brach Schweigen aus. Toms Unbeh a gen hatte den Höhepunkt erreicht. Wenn ihr Vater umzog, geschah es unter eigenartigen Umständen.
Philip nahm die Pfeife aus dem Mund. »Was meint ihr? Glaubt ihr, er stellt uns wieder mal auf die Probe? Gibt uns ein kleines Rätsel auf?«
»Ich breche ein«, erklärte Tom.
»Und die Alarmanlage?«
»Die kann mich mal.«
Tom umrundete das Haus. Seine Brüder folgten ihm. Er stieg über eine Mauer in einen kleinen umzäunten Garten mit einem Springbrunnen. Ein Schlafzimmerfenster befand sich in Augenhöhe. Tom zog einen Stein aus der Beetu m randung. Er nahm ihn mit zum Fenster, ging in Stellung, hob ihn hoch.
»Willst du wirklich die Scheibe einschlagen?«, fragte Philip. »Wie sportlich.«
Tom holte mit dem Stein aus und warf ihn durch die Scheibe. Als das Klirren des Glases verklungen war, blieben alle abwartend stehen und lauschten.
Stille.
»Kein Alarm«, konstatierte Philip.
Tom schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«
Philip lugte durch die zerbrochene Scheibe. Tom sah ihm schon am Gesicht an, dass ihm eine Idee kam. Philip fluc h te, dann sprang er wie der Blitz durch die eingeschlagene Fe n sterscheibe - die Pfeife zwischen den Zähnen, ohne an seine teuren Schuhe zu denken.
Vernon schaute Tom an. »Was hat er denn?«
Tom stieg, ohne zu antworten, ebenfalls durch das Fe
Weitere Kostenlose Bücher