Der Colibri-Effekt
»So, ich hab Feierabend. Du bist jetzt dran, Bernd. Ich glaube, ein
bisschen Ablenkung wird dir in deiner Situation guttun.« Er lächelte kurz,
drückte Lagerfeld die Leine der Riemenschneiderin in die Hand, klopfte ihm im
Weggehen aufmunternd auf die Schulter und verließ schnellstmöglich die
stimmungsaufgeladene Amtsstube.
Doch
Lagerfeld achtete nicht auf das Telefon, sondern befühlte mit seinen Fingern
stattdessen entsetzt sein mit Honig verkleistertes Gesicht, was ebenso
verklebte Hände zur Folge hatte. Schließlich erbarmte sich Honeypenny seiner
und seiner Lage und nahm an ihrem Schreibtisch das Gespräch entgegen. Im
gleichen Moment öffnete sich die Tür des gläsernen Büroverschlages am anderen
Ende des Raumes und ein etwas vergeistigt wirkender, ungekämmter
Dienststellenleiter betrat die Szenerie. Robert Suckfüll sah sofort, dass etwas
nicht stimmte. Es war viel zu ruhig im Büro und Kommissar Schmitt viel zu früh
an seinem Arbeitsplatz, zudem mit reichlich weißer Farbe bekleckst. Außerdem
versuchte der liebe Lagerfeld auffällig unauffällig mit seinen Händen sein
Gesicht zu verbergen. Als Suckfüll alias Fidibus näher trat, erkannte er die
Bescherung sofort. Falten der Unbill erschienen auf seiner Stirn. Von seinem
Kommissar Schmitt war er ja so einiges gewöhnt, aber das hier war nun doch
entschieden zu viel des Guten. Der Dienststellenleiter stützte seine
Handknöchel auf den Schreibtisch.
»Haben
Sie auf einer Künstlerparty gelumpt, Kollege Schmitt?«, fragte er angesäuert.
»Oder beim Jahrestreffen der Imkergewerkschaft vielleicht die falsche Rede
gehalten?« Dann erhellte sich sein Gesicht, offensichtlich war ihm wieder
einmal ein erheiternder Einfall gekommen. »Oder, Herr Schmitt, hat Ihnen
vielleicht jemand eine geklebt? Hahaha!« Hoch amüsiert ließ Suckfüll den
eleganten Wortwitz noch einen Moment nachwirken, während sich Lagerfeld eine
Packung Papiertaschentücher organisierte und sich intensiv mit der
Honigentfernung zu beschäftigen begann. Noch bevor Suckfüll sich mit weiteren
Wortspielen belustigen konnte, begann Marina Hoffmann alias Honeypenny ihm
erregt zu winken. Fidibus seufzte. Haderlein war nicht mehr da und sein junger
Ersatz Lagerfeld, warum auch immer, völlig verklebt und verkleckst. Dann musste
der Chef wohl selbst ran. Gönnerhaft nahm er Marina Hoffmann den Hörer aus der
Hand und zog sich einen Schreibblock heran. Unter dem finsteren Blick der
Büroseele nahm er auf ihrer Schreibtischecke Platz und begann sich eifrigst
Notizen zu machen. Lagerfeld bekam während seiner Grundreinigung nur
Gesprächsfetzen mit: »Wo ist das? – Wie viele? – Seit wann? –
Selbstverständlich werden wir uns darum kümmern. – Nein, kein Problem,
dafür ist die Kriminalpolizei doch da, nicht wahr?« Es war offensichtlich eine
sehr entspannte Unterhaltung, die sein Chef da mit seinem Gesprächspartner am
anderen Ende führte. Der Dialog endete dann auch mit ein paar flapsigen
Bemerkungen über das Wetter, bevor Fidibus mit einem äußerst zufriedenen
Gesichtsausdruck auflegte. Breit lächelnd griff er sich seine Notizen, erhob
sich vom Schreibtisch Honeypennys und schlenderte lässig auf Lagerfeld zu. Der
hatte es währenddessen zumindest geschafft, sich die Hände einigermaßen zu
säubern, als sein Chef ihm den vollgeschriebenen Zettel auf den Schreibtisch
legte.
»Das war
gerade eben ein sehr angenehmes und anregendes Gespräch«, gluckste Fidibus amüsiert.
»Ein sehr gebildeter Herr, dieser Baron von Rotenhenne. Besonders von Botanik
und Gärtnerei scheint er ja eine Menge zu verstehen.« Im Weggehen drehte er
sich noch einmal zu Lagerfeld um, der gerade versuchte, die krakelige Schrift
seines Chefs zu dekodieren.
Mit
missbilligendem Gesichtsausdruck versuchte ihm Fidibus auf die Sprünge zu
helfen. »Der Herr Baron von Rotenhenne, der Schlossherr der Stufenburg, Sie
wissen schon, er hat irgendwie ein paar Frauenleichen auf seinem
Gartengrundstück an der Baunach gefunden. Irgendwer von der Kriminalpolizei
möge doch einmal zeitnah vorbeikommen, um die Sache aufzunehmen.«
Lagerfeld
drehte langsam durch. Was war heute eigentlich los? Ein paar Frauenleichen? So
so. Und die blätterte ihm sein Chef einfach so lapidar auf den Tisch?
»Frauenleichen?«, wiederholte er noch einmal sicherheitshalber.
»Genau«,
sagte Robert Suckfüll entspannt, »drei Stück an der Zahl. Und jetzt nehmen Sie
mal Ihr Ermittlerferkel, Herr Schmitt, schnappen sich den Kollegen
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