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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition)

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition)

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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Steuerhinterzieherinnen, die Extremistinnen und die Schwarzfahrerinnen?
    Grimmig blickt der Boss in die Runde: »Es muss sich was ändern!«, sagt er. Ohrfeigen-Toni kratzt sich ratlos am Hinterkopf. Automaten-Ede starrt wie immer gelangweilt auf seine Fingernägel. »Was meinst du denn, Boss«, fragt er, »was soll sich ändern?« – »Wir müssen was für unser Image tun! Wir müssen freundlicher werden, vor allem zu den Frauen!« Verdutztes Schweigen. »Freundlicher? Zu den Weibern? Aber wir sind doch schon freundlich genug, Boss! Wir machen ihnen teure Geschenke, lassen sie mit unserer Kreditkarte einkaufen …« – »Das reicht aber nicht! Die Frauen von heute verlangen mehr. Sie wollen vor allem … Respekt! Und Chancengleichheit! Hier steht es, überzeugt euch selbst!« Wahllos greift er in einen Stapel bedruckten Papiers vor sich, fischt etwas heraus und liest vor: »Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule haben im letzten Jahr … blah, blah, blah … dann hier: … die Aktion, an der sich dreihundert Schülerinnen und Schüler beteiligten …« – Er wirft das Blatt in die Luft, greift sich ein anderes und liest: »Der Ausschuss der Studentinnen und Studenten der Universität hat beschlossen … blah, blah, blah« – Das nächste: »Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Betriebes … blah, blah, blah.« Erwartungsvoll sieht er seine Mitarbeiter an: »Na, merkt ihr, was da abgeht?« – »Ziemlich viel blah, blah, blah«, sagt Automaten-Ede gelangweilt, »was soll der Mist? Willst du uns zu Tode langweilen?« – »Es geht um die Frauen!«, schreit der Boss und knallt die Faust auf den Tisch. »Kein Rundschreiben, keine Mitgliederbroschüre, kein Flugblatt mehr, auf dem die Frauen nicht extra erwähnt würden!« – »Und was geht uns das an?«, fragt Ohrfeigen-Toni achselzuckend. Der Boss wirft ihm einen verächtlichen Blick zu: »Du verstehst eben nichts von moderner Unternehmensführung. Wer konkurrenzfähig bleiben will, kann nicht länger so tun, als wären die Frauen Luft! Er muss sie erwähnen, in jeder Rede, in jedem Satz! Sonst gilt man als frauenfeindlich, und dann ist man ganz schnell weg vom Fenster!« – »So wie Balkan-Ali, der ist auch weg vom Fenster«, fällt Automaten-Ede ein, »nachdem er seine Alte im Suff die Treppe runtergestoßen hat.«
    Der Boss hat die Zeichen der Zeit erkannt. In anderen Ländern mag es zweisprachige Schulen und zweisprachiges Fernsehen geben, bei uns gibt es die zweigeschlechtliche Anrede. Alles, was gedruckt oder gesendet wird, wird doppelt adressiert, einmal an die männlichen und einmal an die weiblichen Empfänger: die sehr verehrten Zuschauer und Zuschauerinnen, die geschätzten Leserinnen und Leser und die lieben Hörerinnen und Hörer.
    Heute haben es die Arbeitgeber nicht nur mit Arbeiterinnen und Arbeitern zu tun, sondern auch mit Gewerkschafterinnen, Betriebsrätinnen, Geschäftsführerinnen und Gesellschafterinnen. Hätten Marx und Engels das vorausgesehen, hätten sie ihren berühmten Aufruf »Vereinigt euch!« gewiss an die »Proletarierinnen und Proletarier aller Länder« erlassen.
    Immer neue SchülerInnengenerationen wachsen mit der Innenmajuskel heran, einem umstrittenen typografischen Notbehelf, mit dem man zusammenpresst, was man zuvor verdoppelt hat. Vom Schulbuch über Rundschreiben, Flugblätter bis zum ersten »taz«-Abonnement haben die jungen Leute gelernt, dass es für jede Berufsbezeichnung und Gruppenzugehörigkeit eine weibliche und eine männliche Form gibt. Ausnahmslos. Und wo die weibliche Form bislang fehlte, da wird sie erschaffen; notfalls wird Adam die Rippe mit Gewalt herausgebrochen. 100 Jahre Frauenbewegung haben unsere Gesellschaft deutlich verändert – und unsere Sprache auch.
    Längst hat jeder Politiker die »Innen« in diesem Lande verInnerlicht. Viel zu groß ist die Angst, als antiemanzipatorisch und reaktionär gebrandmarkt zu werden, denn das ist gleichbedeutend mit unwählbar. So spricht jeder heute ganz selbstverständlich von den Wählerinnen und Wählern, den Europäerinnen und Europäern, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Daran haben wir uns inzwischen alle gewöhnt.
    Man kann bei allzu tiefer Verneigung vor dem weiblichen Geschlecht aber auch schon mal auf die Nase fallen: Immer wieder kommt es vor, dass eilfertig von der »ersten weiblichen Präsidentin« eines Landes oder »der ersten weiblichen Pilotin« einer Fluggesellschaft berichtet wird.
    Geradezu grotesk wird es, wenn das zu

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