Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
vor langer Zeit das Gerücht in Umlauf gebracht haben, dass im E-Mail-Verkehr sämtliche Regeln der deutschen Orthografie außer Kraft gesetzt seien. Die Überzeugung, man könne in E-Mails so schreiben, wie es einem gerade passt, hat sich jedenfalls weit verbreitet und hält sich hartnäckig.
Wenn jemand aus der Schweiz schreibt und auf das »ß« verzichtet, so ist das sein verbrieftes Recht. Wenn jemand mit einer amerikanischen Tastatur schreibt und deshalb keine Umlaute erzeugen kann, so ist auch das verzeihlich. Allerdings verfügt auch die amerikanische Tastatur über eine sogenannte Shift-Taste, die man hinunterdrücken kann, um Großbuchstaben zu erzeugen. Der vollständige Verzicht auf Großschreibung lässt sich also nicht mit einem Auslandsaufenthalt entschuldigen. Eigentlich lässt er sich mit gar nichts entschuldigen. Mit Coolness oder einem »irgendwie trendigen grafischen Innovationsanspruch« schon gar nicht. Ein Text, in dem alles kleingeschrieben wurde, ist nämlich weder optisch ansprechender, noch ist er leichter zu lesen als ein Text in herkömmlicher Orthografie, im Gegenteil, es bereitet dem deutschen Auge deutlich mehr Mühe, einen kleingeschriebenen Text zu entziffern.
In seinen privaten E-Mails kann selbstverständlich jeder so schreiben, wie es ihm beliebt, sofern er sicher ist, dass es dem Empfänger genauso beliebt. Etwas anderes ist es mit den vielen hunderttausend Mails, die jeden Tag in offizieller Mission verschickt werden: von Geschäftsleuten an ihre Partner, von Kunden an Anbieter, von Ratsuchenden an Auskunftsstellen, von zufriedenen oder unzufriedenen Wählern an Politiker, von Lesern an Redaktionen und Verlage. Wer glaubt, dass bei dieser Form der Kommunikation die Rechtschreibung keine Rolle spiele, der befindet sich im Irrtum. E-Mail ist nicht dasselbe wie SMS!
Auch vom anderen Extrem, nämlich ALLES KONSEQUENT IN GROSSBUCHSTABEN ZU SCHREIBEN, ist abzuraten. Dies wird von vielen Empfängern als SCHREIEN empfunden, und wer lässt sich schon gerne anschreien? Dasselbe gilt für Sätze in Rotschrift. Wer etwas hervorheben möchte, kann dies zum Beispiel *durch Sternchen* tun, das gilt als wesentlich feiner und ist nicht weniger wirkungsvoll.
Äußerst bedenklich sind solche Mails, die mit einem Hinweis der folgenden Art enden: »bitte entschuldigen sie wenn ich in meiner mail auf die unterscheidung von gross- und kleinschreibung sowie auf umlaute, ß und interpunktion verzichte« – und die dann unterschrieben sind mit »a. kaufmann, diplomübersetzerin« oder »b. liebig, textchef« oder »d. körner, werben und texten«. Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen. Erstens: Warum sollte ich das entschuldigen? Und zweitens: Warum sollte ich es ausgerechnet bei einer Diplomübersetzerin, einem Textchef oder einem Werbetexter entschuldigen? Wenn nämlich nicht einmal diejenigen, die die deutsche Sprache zu ihrem Beruf gemacht haben, diese mit der gebotenen Achtung und Sorgfalt behandeln, wie sollen es dann die Heerscharen von verkrachten PISA-Existenzen da draußen?
Der Vertraulichkeitshinweis
Zu guter Letzt: der lästige Rattenschwanz, im Fachjargon auch Disclaimer genannt. Er weist auf die Vertraulichkeit des Inhalts hin und fordert den Empfänger auf, die E-Mail sofort zu löschen, sollte er nicht der richtige Adressat sein. Rund hundert verschiedene Formen dieses Anhangs sind derzeit im Umlauf. Einen tatsächlichen Nutzen, so wurde mir von mehreren sachkundigen Juristen glaubhaft versichert, haben diese Klauseln nicht. Wer wirklich vertrauliche Informationen zu verschicken hat, der wählt dafür andere Wege.
Diese E-Mail enthält vertrauliche und/oder rechtlich geschützte Informationen. Wenn Sie nicht der richtige Adressat sind oder diese E-Mail irrtümlich erhalten haben, informieren Sie bitte sofort den Absender und vernichten Sie diese Mail. Das unerlaubte Kopieren sowie die unbefugte Weitergabe dieser Mail ist nicht gestattet.
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Ungeachtet ihrer Nutzlosigkeit machen diese Vertraulichkeitshinweise inzwischen den größten Teil des elektronischen Postverkehrs überhaupt aus. Man sollte immer damit rechnen, dass der Empfänger einer E-Mail diese ausdruckt.
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