Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Franzosen, Schweden, Italiener, Niederländer, Schweizer und sonstigen Europäer produzieren, wird oft schlicht und einfach unter dem Genre »World« zusammengefasst. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr ich mich darüber wunderte oder amüsierte, wenn ich im Plattengeschäft Sänger aus anderen Ländern in dem Fach »Weltmusik« wiederfand. Nun sind wir selbst dort gelandet! Das verbindet Edith Piaf mit Helene Fischer. Und Eros Ramazzotti mit Patrick Lindner: Sie machen Weltmusik. Was nicht heißt, dass sie Musik für alle Welt machten. Bei »Weltmusik« dachte man früher an karibisches Getrommel, an Panflötenformationen aus den Anden, an indische Raga-Klänge und an russische Militärkapellen. Heute bedeutet Weltmusik: alles, was nicht englischsprachig ist. Und die deutschen Musiker können noch dankbar sein, wenn sie als »Weltmusik« eingestuft werden. Bei vielen CDs heißt es nämlich einfach »Genre: Unclassifiable«.
Also sitze ich da, Stunde um Stunde, und bringe die Titel in eine für mich akzeptable Orthografie, ergänze fehlende Jahresangaben und pflege Coverbilder ein. Es gibt sicherlich sinnvollere Arten, sich in seiner Freizeit zu beschäftigen. Aber wer hat behauptet, Freizeit sei dazu bestimmt, mit Sinn gefüllt zu werden? Inzwischen bin ich mit meiner Arbeit fast am Ende angelangt: Der Stapel der noch hochzuladenden CDs ist auf ein kleines Häufchen zusammengeschrumpft. In Kürze werde ich mir eine neue Freizeitbeschäftigung suchen müssen. Meine Balkongeranien zittern schon vor Angst!
Tanke? Nein danke!
Während sich Politiker und Beamte alle Mühe geben, die Sprache aufzublähen und zu verkomplizieren, findet im Sprachalltag ein genau entgegengesetzter Prozess statt: Die Sprache wird vereinfacht. Die Denkweise wird zur Denke, die Sprechart zum Sprech.
Auf Facebook findet man viele Freunde, und jeder pflegt seinen eigenen Schreibstil. »Tolles Foto, Niki«, kommentiert eine Freundin, »du siehst total süüüß aus!« Niki bleibt cool und antwortet: »Auf dem Pic hab ich aber noch die alte Frise!« – »Frise« für Frisur – das kannte ich noch nicht. Da stehen mir vor Begeisterung die Haare zu Berge! »Frise« ist vielleicht nur ein weiterer Plastikbecher auf dem Müllberg der Sprachdeponie, aber immerhin noch nicht ganz so verbraucht wie andere fetzige Wörter.
Schon in den achtziger Jahren war es schick, statt von »Musik« einfach von »Mucke« zu sprechen: »Ey, total geile Mucke!«, hieß es anerkennend, wenn jemand eine LP mit Musik aufgelegt hatte, die richtig rockte. Oder: »Die Mucke geht echt voll ab!« Die Mucke-Hörer von damals sind längst erwachsen, was aber nicht bedeutet, dass alle dem Jugendjargon entwachsen wären. Noch heute lässt sich bei vielen Menschen ein Hang zur Simplifizierung beobachten. Man verwendet Kurzwörter, die wie hingerotzt klingen, um besonders lässig zu wirken. So mancher Student geht zum Tanzen nicht in die Diskothek, sondern »in die Disse«. Schließlich will er eines Tages doch seine Dissetation machen! Und Schüler verschicken auch schon mal »’ne Simse« anstelle einer SMS.
Als mich mein Freund Philipp zu einer Spritztour in seinem neuen Audi TT mitnahm, sagte er mit Blick auf den Benzinstandanzeiger: »Wir müssen noch schnell zur Tanke!« Philipp ist mittlerweile auch schon jenseits der vierzig, sodass man sehr viel guten Willen aufbringen muss, um ihm das noch als »Jugendjargon« durchgehen zu lassen. Dafür regt sich Philipp über die Jüngeren auf, die zum Teil nur noch elliptische Sätze herausbringen wie: »Ich fahr Tanke!« Philipp ist Journalist und hat, wie er findet, eine »flotte Schreibe«. Damit meint er seinen Schreibstil. Meine »Denke« sei manchmal ganz schön verdreht, sagt er. Ich denke, mit »Denke« meint er meine Denkweise.
Als ich zuletzt bei Philipp und seiner Freundin Maren zum Essen eingeladen war, sagte ich anerkennend: »Du hast eine flotte Schreibe, und Maren hat eine tolle Koche! Das ist die perfekte Mische!« Philipp stutzte, dann erwiderte er lachend: »Und du hast hoffentlich eine gute Verdaue, denn es gibt noch Nachtisch!«
Mein Freund Henry hätte weniger Nachsicht. Er brachte seine Einstellung zur umgangssprachlichen Verkürzung einmal auf folgende Formel: »Coole Denke, flotte Schreibe – Scheißsprech!« Das klingt fast wie ein Werbespruch und führt uns direkt zur nächsten »Verkürze«: In der Welt der Werbung spielen »Präsentationen« eine wichtige Rolle. Einige Werber benutzen
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