Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
entziehen (verriegeln, verschließen, versperren). Materialien lassen sich zusammenfügen (verbinden, verknüpfen, verschweißen) und aus der Form bringen (verformen, verlaufen, verziehen). Zeit, Geld und vieles andere lässt sich aufbrauchen (verbraten, vertrinken, verplempern, verprassen) oder löst sich von selbst auf (verfliegen, verrauchen, verschwinden).
Mit Hilfe von »ver« kann man außerdem eine Menge falsch machen: Wer nicht richtig gezählt hat, hat sich verzählt, wer falsch geschätzt hat, hat sich verschätzt, und wer die verkehrte Nummer gewählt hat, der hat sich verwählt. »Ver« ist immer zur Stelle, wenn jemand vom rechten Weg abkommt und sich verrennt, vertut, vergreift, vergeht, verstrickt, verheddert und verfängt. Und auch dann, wenn sich jemand verliebt. Dass »sich verlieben« nach dem gleichen Muster gebildet wird wie »sich verirren«, »sich verfangen« und »sich verbrennen«, lässt sich leichter mit Romantik als mit Grammatik erklären.
Hier dient »ver« zum Anzeigen der Übertreibung oder der Verfehlung, in anderen Fällen dient es der Umkehrung ins Gegenteil : Da wird »achten« zu »verachten«, »blühen« zu »verblühen« und »zeihen« (ein altes Wort für beschuldigen) zu »verzeihen«.
Bei einer ganzen Reihe von Verben aber markiert »ver« weder ein Verschwinden noch eine Verfehlung oder eine Umkehrung, sondern etwas anderes: Der Unterschied zwischen »sterben« und »versterben« und zwischen »spüren« und »verspüren« ist weniger ein inhaltlicher als vielmehr ein stilistischer. Hier dient das »ver« zur Verstärkung , zur Veredelung, zur Kenntlichmachung des Besonderen. Nach gleichem Prinzip wurde »neigen« zu »verneigen«, »sichern« zu »versichern« und schließlich »meinen« zu »vermeinen« – was einmal für »fest glauben« stand und heute noch in dem Adjektiv »vermeintlich« zu finden ist. Und in diese Kategorie fällt auch das Verb »vergönnen«, das kein ins Gegenteil verkehrtes »gönnen« ist, wie mein Neffe vermeinte, sondern ein veredeltes »gönnen«.
Das alles ist zugegebenermaßen nicht gerade leicht zu überblicken. (V)erschwerend kommt hinzu, dass viele »ver«-Verben in mehreren Ausführungen existieren. Je nachdem, ob sie ein Objekt haben oder nicht, ob sie rückbezüglich sind oder nicht, können sie unterschiedliche Bedeutungen annehmen.
Zum Beispiel kann es vorkommen, dass sich Ärzte beim Verschreiben einer Arznei verschreiben. Ebenso können sich Landvermesser beim Vermessen von Land vermessen (es wäre vermessen anzunehmen, sie täten es nie). Und meine Freundin Sibylle stellt sich regelmäßig die Frage: »Wie wäre das Date wohl verlaufen, wäre mir die Schminke nicht verlaufen und hätte ich mich auf dem Weg nicht verlaufen?«
Auch das Verb »versprechen« kann mehrere Bedeutungen haben, nämlich »geloben«, »verhaspeln« und »erhoffen«. So kann ich Ihnen zwar versprechen, mich nie wieder zu versprechen, doch sollten Sie sich von einem solchen Versprechen nicht allzu viel versprechen.
Eines der vieldeutigsten »ver«-Wörter ist das Verb »verlegen«. Mein Verleger weiß davon ein Lied zu singen: Als Student hat er noch selbst Parkett verlegt, heute verlegt er an guten Tagen Bücher, an weniger guten seine Brille. Er hat sich auch schon mal den Hals verlegen, und um einen guten Rat ist er nie verlegen, und sei es nur, sich nicht aufs Bücherverlegen zu verlegen.
Seine vielseitige Verwendbarkeit ist der Grund dafür, dass »ver« nie aus der Mode gekommen ist. Nicht jedem mögen Neubildungen gefallen wie verlinken, verunfallen, verwirtschaftlichen, veramerikanisieren, vercomputerisieren und vervirtualisieren. Doch so ist »ver« nun mal: Es mag manches verbiegen, verformen und verumständlichen, aber nichts verunmöglichen.
Verlängertes Ver-Vergnügen erwartet Sie auf der folgenden Seite: »Zwölf verschiedene Ver-Wörter, die dasselbe bedeuten, und ein und dasselbe Ver-Wort, das zehn Mal etwas anderes bedeutet«
Weitere Tabellen mit zahlreichen Beispielen für die verschiedenen »ver«-Kategorien finden Sie auf meiner Internetseite www.bastiansick.de
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Für »jemanden zusammenschlagen« kann man sagen:
verbimsen, verbläuen, verdreschen,
verhauen, verkeilen, verkloppen,
vermöbeln, verprügeln, versohlen,
vertrimmen, verwalken, verwamsen
Zwölf verschiedene
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