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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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Verben mit »ver« – ein und dieselbe Bedeutung!
Für »eine Sache in den Sand setzen« kann man sagen:
verbocken, verderben, vergeigen,
vergurken, verhudeln, verhunzen,
verkorksen, vermasseln, vermurksen,
verpatzen, verpfuschen, versemmeln

Ein und dasselbe Wort – zehn Bedeutungen!
Das Verb »versetzen« kann bedeuten:
(1) die Position von Dingen verändern (z. B. eine Schachfigur versetzen)
(2) jemandem etwas zufügen (z. B. einen Schlag versetzen)
(3) einen Schüler in die nächsthöhere Klassenstufe befördern
(4) einen Angestellten in eine andere Position oder an einen anderen Standort schicken
(5) Wertgegenstände zu Geld machen, verpfänden
(6) jemanden vergeblich warten lassen
(7) verdünnen, strecken (z. B. Wein mit Glykol versetzen)
(8) sich oder jemanden in einen anderen Zustand bringen (in Trance, Hypnose, Furcht, Angst und Schrecken versetzen)
(9) einen gedanklichen Situationswechsel oder Rollentausch vornehmen
(10) antworten, erwidern (»Nein!«, versetzte er.)
Der Lehrer kann Schüler in Angst versetzen oder in die nächste Klasse, der Personalchef kann Angestellte in andere Abteilungen versetzen oder in den Ruhestand, der Stratege kann sich in die Lage seines Gegners versetzen und ihm einen Schlag versetzen, der Gitarrist kann seine Bandkollegen bei den Proben versetzen und beim Pfandleiher seine Gitarre, der Wirt kann Schnaps mit Wasser versetzen, der Gärtner kann einen Strauch versetzen, der Maurer eine Wand und der Glaube einen Berg.

Erwarten und versprechen
    Frage einer Leserin aus Düsseldorf: Gerade habe ich in einer Fernsehsendung gehört, wie ein Studiogast gefragt wurde: »Was erwarten Sie sich von dieser Debatte?« Ist das nicht irgendwie falsch? Kann man das so sagen? Heißt es nicht »Was erwarten Sie von dieser Debatte?« Und wie ist die Antwort? »Ich erwarte mir, dass …«? Das klingt doch nun wirklich seltsam, finden Sie nicht?
    Antwort des Zwiebelfischs: Ihr Gefühl trügt Sie nicht. Das Verb »erwarten« wird standardsprachlich nicht mit »sich« gebraucht. Es ist nämlich nicht reflexiv. Man kann etwas oder jemanden erwarten, lang und heiß und sehnlichst, aber das tut man nicht auf »sich« bezogen.
    Im Falle des »Sich-Erwartens« liegt eine Überkreuzung mit anderen, sinnverwandten Konstruktionen vor, nämlich mit »sich etwas versprechen« oder »sich etwas erhoffen«.
    Man kann sich viel (oder wenig) von jemandem versprechen, und man kann sich irgendetwas von irgendjemandem erhoffen. »Versprechen« und »erhoffen« können beide reflexiv (also mit »sich«) gebraucht werden, »erwarten« hingegen nicht.
    Da »sich etwas versprechen« und »sich etwas erhoffen« aber nahezu gleichbedeutend sind mit »etwas erwarten«, kommt es immer wieder vor, dass die eine Form den anderen angepasst wird.
    Die Sprachwissenschaft nennt so etwas eine Kontamination (zu Deutsch »Verschmutzung«) oder auch Amalgamierung, also eine Verschmelzung von Wörtern oder Wortteilen zu einem neuen Begriff. Dies kann bewusst und in kreativer Absicht geschehen, so wie bei der Verschmelzung der Wörter »teuer« und »Euro« zu »Teuro«.
    Meistens aber geschieht es aus Versehen, aus Unkenntnis oder Unsicherheit. Wenn man nicht genau weiß, wie eine bestimmte gängige Phrase gebildet wird, greift man auf eine andere zurück, die ähnlich klingt und ungefähr das Gleiche bedeutet. So entstehen Formulierungen wie »meines Wissens nach« (Verschmelzung aus »meines Wissens« und »meiner Meinung nach«) und Wörter wie »zumindestens« (Kreuzung aus »mindestens« und »zumindest«). Sprachpolizisten zücken in solchen Fällen den Rotstift und ordnen eine gründliche Dekontamination an.
    Auch zu früheren Zeiten wurde »erwarten« nicht rückbezüglich gebraucht, dafür aber noch mit dem Genitiv: »Ich erwarte deiner mit Sehnsucht und offenen Armen«, lautet ein klangvolles Beispiel aus einem »praktischen Rathgeber in der deutschen Sprache« aus dem Jahre 1824. Heute ist der Genitiv nur noch hinter »in Erwartung« zu erwarten.
    Politiker kommen übrigens selten in die Verlegenheit, »sich« etwas zu erwarten, denn das Wort »erwarten« gehört gar nicht zu ihrem aktiven Wortschatz. »Die Erwartung« schon, aber nicht das Verb »erwarten«. Verben sind den Politikern nämlich unbequem. Statt »ich erwarte« sagen sie lieber »ich habe die Erwartung«. Und statt »ich befürchte« heißt es im Politikerdeutsch »ich habe die Befürchtung«. Warum ist das so? Das liegt an der Natur der Wörter: Verben

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