Der Drache am Himmel
manchmal tut er mir doch arg leid. Ich habe schon seinen Vater gekannt, den großen Salvatore. Und eines kann ich mit Bestimmtheit sagen: In einem solchen Schlagschatten findet ein Sohn seinen Weg nicht so leicht.« Aldos Frau Carla wisse von den Schwierigkeiten der Bellini-Firmen wenig. Aldo wolle sie nicht belasten. »Sie kommt aus einfachen Verhältnissen. Und ich vermute, dass sie sich immer noch nicht recht daran gewöhnt hat, auf so großem Fuß zu leben. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen hat. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass sie ehrenamtlich als Schöffin bei Gericht arbeitet. Gerechtigkeit als Hobby, das sagt ja schon etwas über einen Menschen aus … In letzter Zeit scheint bei ihr einiges in Bewegung gekommen zu sein, sie wirkt ernsthafter als noch vor Kurzem. Mir gefällt das. Und was mir auch imponiert: Sie hat sich zu einem Kursus für Sterbebegleitung angemeldet. Dabei geht es ja auch um Gerechtigkeit – um die endgültige, wenn man so will.« Unvermittelt legte Mama Rosa Henry die Hand auf die Schulter, blitzte ihn spöttisch an und sagte: »Bei Sterbebegleitungen fühlt man sich gleich viel jünger. Auch Sie werden sich jung fühlen, wenn Sie mit einer Alten tanzen.«
»Ich werde vor allem damit beschäftigt sein, nicht zu stolpern.«
»Kein Problem. Ein Mann muss nicht auf allen Gebieten perfekt sein. Und so, wie Sie aussehen, können Sie sich ein bisschen Stolpern durchaus leisten.« Sie tätschelte ihm die Wange und fuhr fort, Henrys Fragen zu beantworten.
Der Jüngling, der am Pool seine Fußzehen durchgezählt hatte, hieß Maurice, sagte sie, und war Réas Sohn, also der Sohn der Katzenfrau. Er hatte vor drei Jahren Abitur gemacht und spielte nun in einer Band, »die zweifellos dafür sorgt, dass den Ohrenärzten die Arbeit nicht ausgeht, so laut, wie die spielt. Aber ich mag den Jungen sehr. Ganz hell da und ganz reizend da drin.« Rosa tippte auf Stirn und Herz. Mit ihrem offenen weißen Haar, dem listigen Blick und den markanten Gesichtszügen war Rosa jetzt die indianische Späherin, die gegnerische Stämme auskundschaftet. Jeden, den sie ins Auge fasste, skizzierte sie kurz mit Namen, Eigenheiten und seiner Stellung im Stammesgefüge. Bei den männlichen Gästen erwähnte sie auch Jagdglück, bei weiblichen Eheunglück. Eigentlich spielte sie Henry eine Kabarettnummer vor. Bedauerlich nur, dass er sich nicht alle Informationen merken konnte. Immerhin begriff er, dass die Stadt mehrere Häuptlinge hatte und dass sie einander nicht unbedingt grün waren. Zum inneren Kreis, der die ungeschriebenen Gesetze des Gemeinwesens erließ, gehörten Aldo Bellini, zwei weitere Unternehmer, ein Banker, der Verleger der Regionalzeitung und, unter ferner liefen allerdings, auch der Bürgermeister.
»Ein bisschen gehört mein Severin auch schon dazu, etwas Ethik brauchen solche Kreise ja. Aber den eigentlichen Aufstieg ins Walhalla schafft er nur, wenn er diesen theologischen Lehrstuhl kriegt … Na ja, mal sehen.« Damit war auch dieses Thema abgehakt.
Rosas umherschweifender Blick hielt bei Réa inne, der Katzenfrau. Sie redete gerade auf zwei Farbige aus der Kochcrew ein. Dabei flatterten ihre Hände, als ginge es um Leben oder Tod. Rosa sagte: »Réa hilft diesen Flüchtlingen, den Sans Papiers, wie wir sie hier nennen, wo immer es geht. Sie schreibt Eingaben für sie, verschafft ihnen Medikamente, sammelt Geld. Sie hat auch dafür gesorgt, dass ihre Schützlinge heute das Büfett hier ausrichten dürfen. Eine offizielle Arbeitserlaubnis bekommen sie ja nicht. Meine Güte, was muss so eine illegale Existenz für ein Sch…leben sein! Und es ist schon bewundernswert, wie kompromisslos sich Réa für diese armen Teufel einsetzt. In bester christlicher Tradition, obwohl sie eigentlich gar nicht gläubig ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr sie Severin damit zusetzt. Hab ich das überhaupt schon erwähnt? Die beiden sind ein Paar, mein Sohn, der Pfarrer, und Réa, die hochherzige Aktionskünstlerin. Ihm ist das ein echter Dorn im Auge: dass sich die Frau, mit der er zusammenlebt, erdreistet, seine Theologie eins zu eins in die Praxis zu übertragen. Deshalb liegen sie sich öfter in den Haaren, als ihnen guttut.«
Réa sei mit Herzblut dabei, nur lade sie sich leider ständig zu viel auf. Zusätzlich zu ihren anderen Aufgaben und Verpflichtungen kümmere sie sich nämlich auch noch rührend um einen invaliden Buben aus Ruanda,
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