Der Drache am Himmel
Kleiner Prolog
D ie Meisterin sagt: »Was kümmert dich der Aberglaube? Lass doch etwas Gnade walten! Schwer ist des Menschen Last, nie begreifen zu können, woher er kommt, wohin er geht. Und nicht zu wissen, wozu das Böse da ist, muss unerträglich sein.«
Er schreit : »Ich habe genug von meiner beschämenden Existenz! Sollen die Menschen ihr Lebensspiel doch spielen, wie sie wollen, aber bitte endlich ohne mich. Als Ausrede stehe ich nicht mehr zur Verfügung! Nie ist mir einer vom Karren gefallen, weil man einen Karren, den es nicht gibt, auch nicht beladen kann!«
Die Meisterin lächelt . »Und wer nicht existiert, zieht ja auch keinen Karren, nicht wahr?«
Er empört sich : »Warum diese Ironie? Es gibt kein Pardon mehr. Ich soll Menschen verführt, zur Sünde verleitet, in Versuchung gebracht haben? Herrgott! Wie denn? Ein Nichts und Niemand wie ich kann bestenfalls einem Niemand ein Nichts antun!«
Die Meisterin sagt : »Und das willst du nun beweisen, ja? Du willst dich erschaffen, nur um zu beweisen, dass es dich nie gegeben hat. Wie absurd!«
Er sagt : »Ich kann nicht anders. Ich muss um meiner Ehre willen endlich beweisen, dass unsereins nichts mit dem Bösen zu schaffen hat! Ich gehe als Forscher in die Stadt. Und Feldstudie heißt, was ich durchführen werde.«
Die Meisterin fragt : »Feldstudie? In einer Stadt?«
Er sagt : »Dein Spott ist … ach, lassen wir das. Aber ja, ich werde ein Jahr lang in einer Stadt leben, einer x-beliebigen. Und ich werde diese seltsamen Wesen, die mich seit Ewigkeiten in ihrer Phantasie am Leben erhalten, genau beobachten. Und ihnen allen ein guter Freund sein.«
Die Meisterin sagt : »Raffiniert! Also wird keiner, der strauchelt oder – wie sagt man? – sündigt, behaupten können, du seiest schuld. Habe ich dich da richtig verstanden? Du willst ihnen beweisen, dass allein sie selbst es sind, die sich oder andere ins Unglück stoßen.«
Er ruft : »Genau! Sie selbst. Und niemand sonst! Und damit auch nicht der geringste Zweifel aufkommen kann, werde ich mich nur mit den allerfeinsten Eigenschaften ausstaffieren. Die kindischen Vorstellungen der Menschen geben nichts her; und rufmörderisch sind sie obendrein!«
Die Meisterin seufzt . »Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich da einlässt. In Teufels Küche wirst du geraten. Als Phantom leitest du dich von einem Trugbild ab: paradox! Sich zu erschaffen, um sich abzuschaffen: verrückt! Anzutreten als Personalunion von Teufel und Exorzist: Wahnsinn! Das kommt nicht gut und hat mit Wissenschaft auch nicht das Geringste zu tun.«
Er schreit : »Dann halt mit Notwehr. Ich will es so! Und ist auf dich denn gar kein Verlass? Begleitest du mich etwa nicht?«
Die Meisterin schweigt.
Er sagt : »Ich brauche dich doch. Aus dem Nichts heraus habe ich mich erschaffen, und das ist einsam genug. Begleite mich! Es wird auch dein Nutzen sein. Wir werden uns endlich auflösen dürfen. Frei sein!«
Die Meisterin schweigt.
Er murmelt : »Si hei üs lang gnue verbrüelet! Itz wird di Lug ei für aui mau z’ Bode gmacht …«
Die Meisterin fragt : »Wie bitte? Was brabbelst du da vor dich hin? Du als Mensch! Und ich als was? Als dein Gewissen, dein Geist? Meinetwegen. Doch du wirst dich in arge …«
Und er sagt : »Heinrich werde ich heißen.«
1
Der Tänzer
D ie Katze dort im hautengen Dress wird sich in ihn verlieben. Und drüben der Kardinal in der violetten Robe wird ihn zum Freund wollen. Aber von diesen biografischen Pannen wusste Henry Lauterbach natürlich noch nichts, als er über die Freitreppe der Bellini-Villa hinunter zur Festgesellschaft stieß. Unter den Arm geklemmt trug er eine unscheinbare schwarze Box.
Ein Segel, vom Poolpavillon zu den Bäumen gespannt, markierte eine Bühne. Eben kehrten die Musiker der Band vom afrikanischen Büfett zu ihren Instrumenten zurück. Die Schlagstöcke zwischen die Zähne geklemmt, schraubte der Drummer seinen Hocker höher. Die Sängerin schnalzte probend ins Mikrofon: »Tsa-tsa, tsa-tsa.« Und aus dem beleuchteten Pool, der kalt und blau die Herbstnacht illuminierte, huschten Lichtflocken über Musiker, Gäste und die Sträucher im Park.
Wie jedes Jahr hatten Aldo Bellini und seine schöne Frau Carla zu ihrem venezianischen Maskenfest eingeladen. Beim Pavillon bemühte sich ein weißer Pulcinella um eine azurblaue Colombina, die ihrerseits einen gelben Pantalone hinter der Schnabelmaske umwarb. Und am Büfett schenkte sich ein bereits schwankender Dottore unter
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