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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.F. Dam
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wie nach den gängigen Transliterationen indischer Sprachen vorgesehen: Kan-tschan-dschan-gha.

Erstes Buch
    WEST

But there is neither East nor West.
    Rudyard Kipling

    SIND DIE DINGE DENN – dieser Gedanke ist jetzt oft in mir – bloß Projektionen und Abbilder, sind sie Geschichten?
    Nach einigen nordindischen Denkschulen war das Erste Wort, das Wort der Schöpfung, eine Vibration im Kehlenschlund des Seins/Nichtseins. In äonenlangen Lautkaskaden und Schwingungsinterferenzen (so denke ich), in sich verdichtenden Bedeutungen, war daraus ein Muster gewoben worden, ein textum . Ist dieses Gewebe nun unsere Welt? Eine Welt, die noch immer nicht über das Wortsein hinausgelangt ist? Die noch immer ein Schleier ist, vacuus in atomis (und sind die masselosen subatomaren Teilchen Laute, knatternde Konsonanten, zischende Vokale?).

    Wie dem auch sei. An diesem Morgen, fünf Wochen vor der Bergung von Leichen, von der ich nichts ahnen kann, denke ich nicht an die innere Leere der Welt. Ich denke etwas ganz anderes. Es ist ein nebliger, kalter, mitteleuropäischer Tag gegen Ende März. Ich stehe am Fenster, und es ist das Wort Kuyāshā , das wenige Augenblicke lang Platz in meinem Kopf beansprucht. Kuyasha – so nennt man den Nebel in meiner zweiten Heimat. Man stößt meist nur in den Hügeln auf ihn, wo er während des Regens in großen Fontänen aus der Erde hervorschlägt.
    Ich wende mich um. Gabriela spitzt die Lippen und sieht mich an. Dann schlüpft sie in ihr dunkelgraues Kleid mit den Aufschlägen, ohne einen unerklärlichen Blick von mir zu lassen. Es ist ein sonderbarer Morgen; aus irgendeinem Grund hat das Leben gerade seine Leichtigkeit eingebüßt. Ich gehe in die Küche und mache zwei Tassen Passalacqua-Kaffee. Dazu röste ich große Zuckerkristalle karamelig. Eine Tasse stelle ich auf den Küchentisch, setze mich mit der anderen an den Schreibtisch und widme mich – auf meinem Notebook – Geopotenzialen und dem Satellitenbild Europas von sieben Uhr fünfzehn.
    Der Schnee in den Bergen wird uns erhalten bleiben. Die Klettersaison in den Alpen beginnt erst in sechs Wochen, und ich treibe mich jetzt oft bei der Wetterstation im Wienerwald herum. Ich liebkose das Solarimeter nach Moll-Gorczynski, das aussieht wie ein ptolemäisches Weltmodell, mit den Fingerkuppen und werfe danach einen Blick in die Wetterhütte.
    Gabriela kommt und küsst mich (Gabriela-die-Katalanin, die schwarzes, lamettadickes Haar hat und der Meinung ist, ich sei Teil eines weltweiten männlichen Unterdrückungssystems, was sie nicht davon abhält – ach, lassen wir das, zumal in solch Herrgottsfrühe); sie fährt mir dabei durch das frisch gewaschene Haar.
    Ich nehme ihre Finger und presse sie zweimal an mein Ohr. Gabriela versteht.
    »Änderungen, Bernard?«
    »Maggies Geburtstag, am Freitag«, sage ich. »Vergessen? Ich rufe dich an.«
    »Heiliger Bimbam.« Gabrielas Stimme ist eine Terz nach unten gerutscht, und sie ist etwas zu fest. »Du und sie und eine Flasche Gin?«, sagt sie.
    »Portwein«, sage ich.
    Jetzt geht Gabriela. Hart fällt die Tür ins Schloss. Jetzt bin ich ein paar Minuten, bevor ich zu meinem Wagen und an die ZAMG hetze, allein. Es tut mir nicht gut. Ich lasse die meteorologische Seite liegen, öffne zuerst linkedIn und sehe dann nach den Mails, was ich sonst beides – eine strenge, disziplinierende Maßnahme – bis zum Büro aufschiebe. Etwas irritiert mich an den Letzteren. Ich lese keine der fünf oder sechs Mails und stehe auf. Ein dunkles Gefühl sucht mich heim, als ich in meine rahmengenähten Schuhe schlüpfe. Am Spiegel füge ich meiner Frisur eine halbe Fingerspitze Haarwachs bei; beinahe ist mir, als sei das Gewebe der Welt um mich spröde geworden. Als hätten die Dinge – der nebelversunkene Garten drüben vor dem Fenster, die ostindische Vase auf dem Tisch, das weiße Ledersofa – ihre Freundschaft aufgekündigt und beschlossen, von nun an eigene Wege zu gehen.

I
    Von
    Iskander Mahan

    An
    Dr. Bernard Rai

    Am Morgen des achtzehnten Mai (man schrieb 1498, Jahr des mysteriums ) erwachte Fernão Pinto mit einem dicken Schädel in die gnadenlose Hitze dieses Tages hinein. Der Ausguck der São Gabriel wartete auf ihn. Dabei hatte Fernão ein Gelage mit dem Gebrannten hinter sich, den ihnen der Kapitän von der Offiziersration hatte schicken lassen. Und nun musste Fernão, kaum wach, hinauf.
    Hinauf, hinauf in den Mast mit ihm, lasst ihn sehen, was kein

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