Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
Prolog
J ames Lassiter war vierzig Jahre alt, athletisch gebaut, attraktiv, stand in der Blüte seiner Jahre und erfreute sich bester Gesundheit.
Eine Stunde später sollte er tot sein.
Vom Deck des Bootes aus sah er nichts als klare, blaue Wellen und die leuchtenden Grün- und tiefen Brauntöne des großen Riffs, das unter der Oberfläche des Korallenmeeres wie Inseln schimmerte. Weiter im Westen hoben und senkten sich perlende Schaumkronen in der Brandung und brachen sich an den vorgelagerten Korallenbänken.
Von seiner Position auf der Backbordseite aus beobachtete Lassiter die Formen und Schatten der Fische, die sich wie lebendige Pfeile durch jene Welt bewegten, für die er genauso geboren war wie sie. Die Küste Australiens konnte er in der Ferne nur ahnen, um ihn herum gab es nichts als die Weite des Ozeans.
Es war ein wunderschöner Tag, das glasklare Wasser schimmerte, hin und wieder durchbrochen von hellen, golden glänzenden Lichtstrahlen, der Wind wehte sanft, und am Himmel war nicht eine einzige dunkle Wolke zu sehen.
Unter Lassiters Füßen schwankte das Deck sanft auf der ruhigen See. Kleine Wellen schlugen rhythmisch gegen den Schiffskörper. Und unten, sehr tief unten, lag ein Schatz, der nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Zurzeit arbeiteten sie am Wrack der Sea Star, einem britischen Handelsschiff, das zwei Jahrhunderte zuvor am Great Barrier Reef gesunken war. Seit über einem Jahr schufteten sie nun, nicht selten bis zur Erschöpfung und nur von
Schlechtwetterpausen, Geräteausfall und ähnlichen Widrigkeiten unterbrochen, um die Schätze ans Tageslicht zu bringen, die ihnen die Star hinterlassen hatte.
Dabei war James durchaus klar, dass es noch andere Schätze gab. Seine Gedanken verließen die Sea Star und das atemberaubende und zugleich gefährliche Riff und schweiften weiter nach Norden zu den sanften Gewässern der Westindischen Inseln. Zu einem anderen Wrack, einem anderen Schatz.
Zum Fluch der Angelique.
James fragte sich, ob es tatsächlich das mit Juwelen besetzte Amulett war, auf dem der Fluch lag, oder nicht vielmehr die Frau, die Hexe Angelique, deren Macht – so hieß es – immer noch an den Rubinen, den Diamanten und dem Gold haftete. Die Legende besagte, dass sie dieses Geschenk ihres Ehemannes, den sie angeblich ermordet hatte, an dem Tag getragen hatte, als sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Die geheimnisvolle Geschichte um die Frau und das Schmuckstück faszinierte ihn. Die Suche nach dem Amulett, die in Kürze beginnen sollte, hatte für ihn eine persönliche Bedeutung. Es ging ihm dabei nicht allein um Reichtum und Ruhm, sondern vielmehr um den Fluch der Angelique und die damit verbundene Legende.
James Lassiter war mit der Schatzsuche, den Geschichten über gesunkene Schiffe und der Beute, die das Meer versteckt hielt, groß geworden. Sein ganzes Leben lang war er getaucht, und schon immer hatten sich seine Träume um diese Themen gedreht. Sie hatten ihm seine Frau genommen und ihm einen Sohn geschenkt.
Er wandte sich von der Reling ab, um Matthew zu betrachten. Der Junge war inzwischen fast sechzehn und sehr groß, aber sein Körper würde sicher noch kräftiger werden. In der schmalen, sehnigen Gestalt erkannte James vielversprechende Anlagen. Matthew hatte das gleiche eigenwillige Haar wie sein Vater, allerdings weigerte sich der Junge standhaft,
es kurz schneiden zu lassen, sodass einige Strähnen jetzt, während Matthew die Tauchausrüstung überprüfte, wie ein Vorhang vor sein Gesicht fielen.
Er hatte in den letzten ein oder zwei Jahren seine kindliche Rundlichkeit verloren und mehr Konturen bekommen. Ein Engelsgesicht, hatte eine Kellnerin früher einmal gesagt und den Jungen damit dermaßen in Verlegenheit gebracht, dass er rot anlief und eine Grimasse schnitt.
Inzwischen wirkte er recht verwegen, und die blauen Augen, die er von James geerbt hatte, blickten häufiger wütend als gelassen drein. Das Temperament der Lassiters und das fast schon sprichwörtliche Pech der Lassiters, dachte James mit einem Kopfschütteln. Kein leichtes Erbe für einen heranwachsenden Jungen.
Eines Tages, überlegte er, vielleicht schon sehr bald, würde er endlich dazu in der Lage sein, seinem Sohn all das zu geben, wovon sein eigener Vater geträumt hatte. Und der Schlüssel dazu wartete geduldig in den tropischen Meeren der Westindischen Inseln.
Eine unbezahlbare Halskette aus Rubinen und Diamanten, mit einer Geschichte behaftet, mit einer Legende
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