Der dritte Berg
Wir gehen hinüber in Sophias Arbeitshöhle. Die wird vor Regalen immer kleiner; Papierstapel hundertfach in ihnen, ebenso auf dem Schreibtisch. Darüber schiefe Reihen mit jeder Art von Datenträgern. Der geschäftliche Werdegang des Südasieninstituts fängt an, mir Kummer zu bereiten. An ihrem Schreibtisch zeigt Sophia mir ihre letzte Arbeit. Ein gescanntes Manuskript mit Analysen und Ãbersetzungen. »Eine Version der Siddha-Sara-Samhita «, sagt Sophia und setzt sich vor ihren Bildschirm. »Medizinisches Allerlei von Ravigupta. Hat kaum ein paar hundert Jahre auf dem Buckel.«
Ich zögere.
»Noch etwas auf dem Herzen, Bernard?« Sophia sieht mich über die Schulter an. Sie hält jetzt ein besonders schönes Lächeln für mich bereit.
»Meine Nummer. Für den Fall, dass er sich meldet«, sage ich und schreibe Sophia meine Telefonnummer auf.
»Teufel, ja, Bernard«, Sophias Stimme klingt zerkratzt, »irgendwann muss er doch wieder aufkreuzen oder wenigstens ein Lebenszeichen von sich geben.«
Ein roter Schauer läuft über Sophias Gesicht, als sie dann meinen Zettel mit einer würdevollen Handbewegung in Empfang nimmt. Etwas an dieser Geste lässt mich an Sunita denken. Es mag die Drehung des Handgelenks sein, oder die rollende Bewegung der Finger, so wie sie eine Bharatanatya -Tänzerin vollführt. Eine Sekunde lang schwebt diese Hand zwischen Sophia und mir. Dann dreht Sophia sich abrupt dem Bildschirm zu, hebt dieselbe Hand zu einem wie wegwerfenden GruÃ, als sagte sie, »geh endlich«. Jetzt, wo ich doch gar nicht wegwill. DrauÃen zerschellt ein letzter Donnerschlag an den Dächern der Stadt.
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ES IST, ALS HÃTTE SOPHIAS HANDBEWEGUNG mich in eine andere Zeit katapultiert, mich wie ein Stäubchen siebentausend Kilometer nach Westen gefegt und mich einfach in diesen schönen, kleinen, gefährlichen Abgrund gestoÃen.
Kaum ein Jahr ist es her, als ich Christian an einem kalten Morgen bei seinem Haus abhole. Wir sind auf dem Weg nach New York City. Christian muss an der Columbia University eine Vortragsreihe halten und wir wollen bei seinem Freund Anil Kumar Chaudhury wohnen. Anil ist Anthropologe am Department of Cultural Studies.
Am JFK -Flughafen wartet statt Anil eine groÃgewachsene Frau am Ausgang des Gates; sie hält das Schild
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vor der Brust. Die anderen Wartenden um sie herum starren sie ungläubig an, als sie uns zuwinkt. Woher kennt sie uns blo� Sie stellt sich uns als Anils kleine Schwester vor. Zu Besuch aus Delhi. Wir sind beide vollkommen sprachlos. Ihr Name ist Sunita. Christian wirft mir einen Blick zu und schüttelt den Kopf. Er hat keine Ahnung gehabt von Sunita.
Sunita geht mit uns durch das letzte Licht der Dämmerung hinüber zum Parkplatz, wobei sie darauf besteht, mindestens ein Stück unseres Handgepäcks zu tragen. Die Wahl fällt auf meine kleine Tasche, die sie mir mit dieser imponierenden Bewegung abnimmt, wie eine Bharatanatya -Tänzerin. Sunita plaudert in einem fort und vergisst dabei nicht, uns immer wieder aufmerksam und abwechselnd anzusehen. Sie trägt Jeans, und unter einer einfachen, schwarzen Wolljacke, die sie offen hält, lugt eine beigefarbene, geknöpfte Bluse hervor. Wenn die Jacke beim Gehen oder bei einer Drehung zur Seite flappt, sehe ich, wie sie sich über den Spitzen ihrer Brüste spannt. Sunitas halblanges mahagonischwarzes Haar ist hinter die Ohren gestrichen und fällt bei einer solchen Bewegung in einem dicken Schwall über ihr Schlüsselbein, je nach Bewegung auf der rechten oder linken Seite. Zehn Minuten lang fühle ich mich wie ein Schuljunge.
An den folgenden Tagen begleite ich Christian und Anil Chaudhury auf die Columbia University, hässliches Uptown-Manhattan. Christians Vortragsreihe hat den Titel Philosophy and Medicine in Indiaâs Classical Age â As Represented in »Unknown« Manuscripts . Die Vorträge finden mächtigen Zuspruch, der Rektor hält am ersten Tag eine BegrüÃungsrede und der Saal ist stets mit hundertfünfzig Leuten vollgerammelt. Christian kann reden, er schafft es, den schwierigsten Sachverhalt in eine spannende Geschichte zu verwandeln. Er ist hier so etwas wie ein Star. Niemand hat sich noch so viel Mühe gemacht, verloren geglaubte Texte aufzustöbern, die man bisher höchstens aus Verweisen aus anderen Werken kannte.
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