Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
HUNDEGEBELL ZERREISST DIE STILLE.
Die Mutter hebt den Blick vom Spülbecken und schaut aus dem Fenster. Der Hund knurrt aus tiefster Kehle. Sein schwarzer muskulöser Körper zittert vor Aufregung.
Jetzt sieht sie ihren Sohn. Er steigt aus seinem roten Golf und läßt eine blaue Tasche auf den Boden fallen. Er schaut verstohlen zum Fenster hinüber. Dahinter kann er die Umrisse seiner Mutter ahnen. Er geht zu dem Hund und bindet ihn los. Das Tier springt an ihm hoch. Sie gehen zu Boden, der Sand stiebt auf. Der Hund knurrt, der Sohn ruft ihm liebevolle Schimpfwörter ins Ohr. Ab und zu schreit er auf und schlägt dem Rottweiler hart auf die Schnauze. Dann endlich liegt der Hund still. Der junge Mann erhebt sich langsam. Wischt sich Staub und Schmutz von der Hose. Schaut wieder zum Fenster hinüber. Zögernd kommt der Hund auf die Beine und steht mit gesenktem Kopf vor seinem Herrn. Dem darf er jetzt endlich unterwürfig die Mundwinkel lecken. Danach geht der Sohn ins Haus und in die Küche.
»Herr Jesus, wie siehst du denn aus!«
Die Mutter starrt das blaue T-Shirt an. Es ist blutbefleckt. Die Hände des Jungen sind von Schrammen übersät. Und das Gesicht hat der Hund ihm auch zerkratzt.
»Du meine Güte«, schnaubt die Mutter gereizt. »Stell die Tasche in die Ecke. Ich will später noch waschen.«
Er verschränkt die zerschundenen Arme. Sie sind so kräftig wie überhaupt der ganze Mann. Fast hundert Kilo und kein Gramm Fett. Er hat seine Muskeln eben erst benutzt, und sie sind heiß.
»Reg dich ab«, sagt er rasch. »Das mach ich schon selber.«
Sie traut ihren Ohren nicht. Er will seine Sachen selber waschen?
»Wo warst du eigentlich?« fragt sie dann. »Das Training kann doch unmöglich von sechs bis elf dauern?«
Der Sohn kehrt ihr den Rücken zu und murmelt vor sich hin.
»Hab Ulla begleitet. Zum Babysitten.«
Sie schaut auf seinen breiten Rücken. Er hat seinen blonden Haaren einen Bürstenschnitt verpaßt. Hier und da leuchten einige rote Strähnen auf. Er scheint in Flammen zu stehen. Jetzt läuft er die Kellertreppe hinunter. Sie hört, wie er die alte Waschmaschine anstellt. Sie läßt das Wasser aus dem Spülbecken laufen und blickt auf den Hof. Der Hund hat jetzt den Kopf auf die Pfoten gelegt. Der letzte Rest Licht verschwindet. Der Sohn kommt wieder nach oben und will duschen.
»Duschen, jetzt? Du kommst doch gerade vom Training.«
Er sagt nichts. Später hört sie seine Stimme aus dem Bad, sie hallt hohl von den Fliesenwänden wider, schrill vor jugendlicher Verzweiflung. Er singt. Und knallt mit der Tür des Medizinschränkchens. Vermutlich sucht er Pflaster, der dumme Junge.
Die Mutter lächelt. Diese Heftigkeit ist nur gut und richtig. Er ist schließlich ein Mann. Und später wird sie sich an dies immer wieder erinnern.
An den letzten Augenblick, in dem das Leben noch gut war.
ALLES FING MIT GUNDER JOMANN AN.
Gunder fuhr den weiten Weg nach Indien, um sich eine Frau zu suchen. Allerdings nannte er nicht diesen Grund, wenn er gefragt wurde. Er gestand ihn kaum sich selber ein. Er wolle einfach ein wenig von der Welt sehen, erklärte er auf die Fragen seiner Kollegen. Was für eine unglaubliche Ausschweifung! Wo er doch sonst kein Aufhebens von sich machte. Ging selten aus, tauchte nie bei den Weihnachtsfeiern auf, pusselte immer im Haus, im Garten oder am Auto herum. Eine Frau hatte er auch nie gehabt, jedenfalls war nichts darüber bekannt Gunder interessierte sich nicht für Klatsch. Er war im Grunde ein zielstrebiger Mann. Zwar etwas langsam, erreichte er aber immer sein Ziel, ganz still und leise. Er ließ sich eben Zeit. Mit seinen einundfünfzig Jahren blätterte er jeden Abend in einem Buch, das seine jüngere Schwester Marie ihm geschenkt hatte. »Die Völker dieser Erde«. Weil er nicht viel herumkam, und höchstens zu seinem Arbeitsplatz fuhr, einer kleinen und soliden Firma, die Landmaschinen verkaufte, sorgte sie dafür, daß er zumindest Bilder von der fernen Welt sehen konnte. Gunder las und blätterte. Er war vor allem von Indien fasziniert. Von den schönen Frauen mit dem roten Punkt auf der Stirn. Ihren geschminkten Augen, ihrem verschmitzten Lächeln. Eine schaute ihn aus dem Buch her an, und sofort verlor er sich in süßen Träumen. Keiner konnte so träumen wie Gunder. Er schloß einfach die Augen und ließ sich davontragen. Die Frau sah in ihrem roten Sari so leicht aus wie eine Feder. Ihre Augen waren so tief und dunkel wie schwarzes Glas. Ihr Haar war
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