Der Duft der grünen Papaya
Tristan von Arnsberg. Ehrlich gesagt wusste ich noch nicht einmal, dass es jemanden dieses Namens in unserer Familie gab. Ich wollte Sie jedoch nicht mit einer so einfachen Antwort abspeisen, also bin ich auf den Speicher gegangen und habe in alten Dokumenten gesucht. Folgendes habe ich herausgefunden: Mein Großvater war offenbar der Vetter Tristans. Nach dem Tod des Grafen Lothar von Arnsberg ging der Titel an seinen Bruder und dessen Kinder und Enkel über, von denen ich einer bin. Viel mehr kann ich Ihnen auch nicht berichten, außer vielleicht, dass Tristans Mutter erst 1944 hochbetagt im Schloss Arnsberg starb, wenige Wochen, bevor es zerstört wurde.
Anbei das einzige Foto, das ich von Tristan finden konnte. Es stammt aus einem alten, völlig verstaubten Album.
Ich hoffe, Ihnen weitergeholfen zu haben, und verbleibe mit den besten Wünschen
Thilo von Arnsberg.«
Mit zittrigen Händen holte Ili das Foto hervor. Die Rückseite war gelblich, aber das Datum, mit vornehmer lila Tinte geschrieben, war deutlich zu lesen: 14. September 1913. Das war kurz vor Tristans Abfahrt nach Samoa gewesen.
Ili schloss die Augen, drehte das Foto um und hielt es einige Momente einfach in den Händen, spürte sein Alter, tastete über die geriffelten Kanten. Dann erst betrachtete sie es.
Es musste sich um jenes Foto handeln, von dem die Gräfin ihm nach Samoa geschrieben hatte, jenes sympathische Foto ohne Uniform, das er aus einer Laune heraus hatte machen lassen und das als einziges ein Missgeschick des Laborgehilfen überlebt hatte.
Lange blickte sie ihn an. Er war stets nur eine Figur für sie gewesen, eine Gestalt in einer Geschichte. Er hatte sie niemals gesehen und sie nicht ihn. Sie waren sich nicht fremd gewesen und nicht nah. Sie waren zwei Geschöpfe, die etwas verband, was man nicht durchschneiden und nicht aufrollen konnte. Über einen bestimmten Punkt hinaus konnten sie sich weder voneinander entfernen noch sich berühren Eine Sprache zwischen ihnen war nicht möglich. Bis jetzt.
Zum ersten Mal sah sie ihrem Vater in die Augen, und alles änderte sich. Sie erblickte einen gut aussehenden Mann mit blonden Haaren und in legerer Kleidung. Er saß bequem auf einem Gartenstuhl und lächelte zufrieden, aber – so schien es Ili – auch mit einer kleinen Unsicherheit in die Kamera. Noch konnte er nicht wissen, was ihm bevorstand, nicht ahnen, dass er ein Jahr später bereits tot sein würde. Er war einfach ein junger Bursche, der die Herbstsonne genoss und vorhatte, etwas von sich zurückzulassen, das ihm entsprach.
Dieses Foto entsprach ihm.
Ili entsprach ihm.
Sie lächelte, während ihr Blick über den Pazifischen Ozean glitt, über die fernen Fontänen vorbeiziehender Wale, über die Riesenfeigen und Muskatbäume und die Wolken, die wie Flammen hinter den Bergen hervorquollen.
Die Stimme in ihr, die so viel Unruhe erzeugt hatte, schwieg. Ilis Leben war komplett.
»Tristan«, flüsterte sie in den Wind, »Papa. Ich liebe dich.«
Sie stand auf und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe Januar 2013 bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Sarah Benedict und
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Das Buch ist bereits 2006 unter dem Titel »Der Papaya-Palast« (36482)
bei Blanvalet erschienen.
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel|punchdesign
Umschlagmotiv: © Johannes Wiebel|punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Ilse Wagner
ES · Herstellung: sam
eISBN 978-3-641-08825-5
www.blanvalet.de
www.randomhouse.de
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