Ohne Beweis (German Edition)
Prolog:
Der kleine Junge mit den großen, fast schwarzen Augen, kauerte lautlos weinend in der Ecke des kleinen Wohnzimmers, das ihm und seiner Mutter auch als Schlafstätte diente. Sie hatte an diesem Abend Besuch von einem Mann gehabt – wie so oft – und es waren nur selten bekannte Gesichter darunter. Doch diesen einen hatte er schon oft gesehen und gespürt …
Doch heute würde er ihn nicht finden. Heute war der Junge schneller gewesen, als er den stinkenden Kerl laut nach seiner Mutter hatte rufen hören. Er hatte die Worte „Schlampe“ und „bin wieder da“ herausgehört, doch nur letzteres hatte das Kind auch sinngemäß erfassen können. Wenn doch nur sein Papa endlich wieder nach Hause kommen würde! Der würde ihn und auch seine arme Mutter vor den Schlägen dieses bösen Mannes beschützen. So schnell ihn seine kleinen dreijährigen Beinchen hatten tragen können, war der schwarzhaarige Junge hinter das Sofa geschlüpft und obwohl es dort sehr eng und staubig war, fühlte er sich hier einigermaßen sicher. Ob sie nach ihm suchen würden? Er wollte heute nicht wieder ins Gesicht geschlagen werden – er wusste sowieso nicht, warum er von diesem Mann jedes Mal verdroschen wurde. Er machte doch gar nichts! Nicht einen Mucks gab er von sich, wenn der Mann mit seiner Mutter „spielte“, wie der das immer nannte.
Warum weinte seine Mutter dann jedes Mal, wenn der Mann, manchmal erst nach Stunden, wieder ging?
Machte ihr das Spielen so viel Spaß und sie wollte nicht, dass er wieder wegging? Aber trotz seiner jungen Jahre wusste der Kleine instinktiv, dass dieses Spielen seiner Mutter nicht, oder jedenfalls nicht immer, gefiel und dass sie oft laut aufschrie.
Weinte sie vielleicht manchmal, weil der Mann ihrem kleinen Jungen mal wieder wehgetan hatte? Aber warum hielt sie ihn dann nicht zurück? Warum half sie ihm nie, wenn der Mann auf ihn losging, wo er doch meist so brav in seinem Laufstall saß?
Nur heute war der Typ wohl früher als erwartet gekommen und seine Mutter hatte vergessen, ihn vorher in den Laufstall zu setzen. Diese Chance hatte das Kind ohne nachzudenken genutzt und sich versteckt. Ob sie ihn finden und dafür bestrafen würden?
1
Verträumt blickte Carolin Lechner hinunter ins ruhig daliegende Ottenbacher Tal. Sie saß etwas außerhalb vom kleinen Weiler Kitzen auf einer hochgelegenen Wiese, während nebenan friedlich braun-weiße Kühe grasten. Wenn man sich umschaute, konnte man meinen, man wäre hier ganz alleine auf der Welt. Von dort oben hatte man einen wunderbaren Blick geradeaus auf den Kaiserberg Hohenstaufen und rechterhand ragte die Burgruine Hohenrechberg zwischen den Bäumen hervor. Rings ums Ottenbacher Tal reihte sich Hügel an Hügel, was dem abgelegenen Tal den Namen „Göppinger Allgäu“ eingebracht hatte.
Heiß war es heute – endlich Sommer! Darauf hatte man in diesem Jahr wirklich sehr lange warten müssen, doch nun bei über dreißig Grad im Schatten stöhnten die meisten schon wieder. Das Wetter konnte es vielen einfach nicht recht machen und die immensen Temperaturschwankungen von einem Tag zum anderen machten vor allem den älteren Menschen oft schwer zu schaffen.
Doch die trotz ihrer grau-melierten Haare noch jugendlich wirkende Frau genoss diesen herrlichen Sommertag. Sie gönnte sich gerade eine kleine Auszeit von der vielen Arbeit, die sie momentan mit dem Umzug ihrer Bücherei hatte. Wenn sie aber zurückdachte, war das Ausräumen im April noch viel anstrengender gewesen, denn da hatten sie ein ganzes Bauernhaus mit sieben Räumen voller Bücher ausräumen müssen! Nach zehn Jahren musste die Bücherei aus dem 1682 erbauten Fachwerkhaus wieder ausziehen, da es verkauft worden war. Da man in die zwei Räume des neuen Rathauses nur einen Bruchteil der Bücher hatte mitnehmen können, mussten sie sehr viele, die sie nicht anderweitig losgeworden waren, wegschmeißen! Beim Gedanken an den über halbvollen Heuwagen, den der Musikverein mit der Altpapiersammlung weggebracht hatte, blutete ihr heute noch das Herz.
An diesem Tage hatte sie aber nur am Vormittag, gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Carmen, den Männern vom Bauhof beim Aufstellen der Regale für die kleine Bücherstube im neuen Rathaus geholfen. Doch nachdem die Sonne stundenlang gnadenlos zum Fenster hereingeschienen hatte, genehmigten sich die Zwillinge nun eine nachmittägliche Pause. Carolins Schwester Carmen liebte das Wasser und so war
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