Der Duft des Sommers
nichts mit mir zu tun haben wollen. Ich verlasse mich hier auf meinen Instinkt. Und der sagt mir, dass Sie ein sehr verständnisvoller Mensch sind.
Es ist nicht leicht, in der Welt zurechtzukommen, fuhr er fort. Manchmal muss man sich einfach hinsetzen und nachdenken. Sich sammeln. Eine Weile zur Ruhe kommen.
Ich schaute meine Mutter an. Wir fuhren die Main Street entlang, gondelten am Postamt, dem Drugstore, der Bank,
der Bücherei vorbei. All das war mir vertraut, aber ich hatte es noch nie in Begleitung von jemandem wie Frank gesehen. Der sagte jetzt zu meiner Mutter, es höre sich an, als seien die Bremsen am Wagen nicht ganz in Ordnung. Wenn er an Werkzeug rankäme, könne er sich gerne darum kümmern.
Ich saß neben meiner Mutter und blickte sie von der Seite an, um ihren Gesichtsausdruck beobachten zu können, als Frank diese Sachen sagte. Mein Herz pochte, und ich spürte einen merkwürdigen Druck auf der Brust – nicht direkt Angst, aber irgendwas Ähnliches, das sich komischerweise gut anfühlte. So etwas hatte ich auch gefühlt, als mein Vater mit Richard, dem Baby, Marjorie und mir in Disneyworld war und wir in die Space-Mountain-Bahn stiegen – nur Marjorie und das Baby nicht. Ich wäre beinahe wieder ausgestiegen, aber dann gingen das Licht und die Musik an, und Richard stupste mich in die Seite und sagte, Wenn du kotzen musst, beug dich in die andre Richtung.
Heute ist mein Glückstag, sagte Frank. Und Ihrer vielleicht auch.
Da wusste ich, dass sich etwas verändern würde. Wir waren jetzt auf dem Weg in den Space Mountain, in eine dunkle Höhle, wo der Boden vielleicht nachgab und man nicht mehr wusste, wohin der Wagen einen brachte. Vielleicht würden wir zurückkommen. Vielleicht nicht.
Wenn das auch meiner Mutter klar wurde, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Auf dem ganzen Heimweg umklammerte sie nur das Lenkrad und starrte geradeaus wie auf der Hinfahrt.
2
Die Kleinstadt, in der wir damals lebten – Holton Mills in New Hampshire –, war einer dieser Orte, wo jeder über den anderen Bescheid weiß. Die Leute merkten, wenn man den Rasen zu lange nicht gemäht hatte, und wenn man sein Haus in einer anderen Farbe als Weiß strich, sprachen sie einen zwar nicht direkt darauf an, aber es wurde darüber geredet. Dabei war meine Mutter ein Mensch, der einfach nur seine Ruhe haben wollte. Zwar hatte es einmal eine Zeit gegeben, in der es ihr ungeheuer wichtig gewesen war, auf einer Bühne zu stehen und von allen gesehen zu werden, aber nun wollte sie nur noch so unsichtbar wie möglich sein.
Sie fand es besonders toll, dass unser Haus am Ende der Straße lag und dahinter nur eine große Wiese und Wälder waren. Hier kamen so gut wie keine Autos vorbei, es sei denn, jemand hatte sich verfahren und musste wenden. Außer Leuten wie dem Mann, der Geld für das Waisenhaus sammelte, irgendwelchen religiösen Typen oder jemandem mit einer Petition klingelte so gut wie nie einer bei uns, was meiner Mutter nur recht war.
Das war früher anders gewesen. Früher waren wir manchmal bei anderen Leuten gewesen und hatten selbst Besuch gehabt. Doch nun hatte meine Mutter nur noch eine einzige
Freundin, und die kam auch so gut wie nie mehr vorbei. Evelyn.
Evelyn und meine Mutter lernten sich zu der Zeit kennen, als mein Vater uns verließ. Meine Mutter hatte damals die Idee gehabt, bei uns zuhause Kreativen Tanz für Kinder anzubieten – später wäre so etwas undenkbar gewesen bei ihr. Damals aber verteilte sie tatsächlich überall in der Stadt Flyer und setzte eine Anzeige in die Lokalzeitung. Mütter sollten mit ihren Kindern zu ihr kommen, und meine Mutter würde Musik auflegen, und alle sollten mit Tüchern und Bändern herumtanzen. Danach würde es einen kleinen Imbiss geben. Und wenn sie dann genügend Kunden hätte, müsste sie sich nicht mehr draußen in der normalen Welt einen Job suchen, worauf sie nämlich gar keine Lust hatte.
Sie gab sich viel Mühe mit diesem Projekt. Nähte kleine Matten für alle, räumte die gesamten Möbel aus dem Wohnzimmer – wir hatten ohnehin nicht mehr viele –, kaufte einen günstigen Teppich für den Boden, den sich jemand anders bestellt, ihn aber dann nicht bezahlt hatte.
Ich war damals selbst noch ziemlich klein, aber ich erinnere mich gut an den ersten Termin für den Kurs. Meine Mutter verteilte Kerzen im ganzen Zimmer und buk Kekse – die gesunde Sorte, mit Vollkornweizenmehl und Honig anstelle von Zucker. Ich wollte nicht mittanzen und
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