Der Dunkle Code
Er sah, wie der Polizist das Gesicht in die offene Hand sinken ließ, als hätte er die Absicht, in dieser Sekunde seine Karriere aufzugeben. Dann bedeutete ihm der Mann, den geöffneten Pass an die Scheibe zu halten. Durch die zahlreichen Kratzer hindurch las der Polizist Aaros Angaben ab und schrieb sie auf, aber Aaro war ganz und gar nicht sicher, ob auch wirklich alles korrekt aufs Papier kam.
»Die Aufseher behaupten, du hättest dem Säureattentäter Zeichen gegeben«, sagte der Polizist.
»Nein! Ich hab bloß beobachtet, was der Typ …«
»Kennst du den Saboteur?«, fragte der Polizist, ohne Aaro ausreden zu lassen.
»Nein«, rief Aaro. »Ich habe mit dem Ganzen nichts zu tun …«
Aus dem Funkgerät meldete sich eine Stimme und der Polizist nahm das Gerät ans Ohr. Aaro sah aus dem Fenster des Streifenwagens. Eine Kette von mindestens fünf Einsatzfahrzeugen fuhr mit heulenden Sirenen in Richtung Petersplatz. Männer in Signalwesten stellten Absperrgitter auf der Straße auf. Auch die einmündende Seitenstraße wurde blockiert. Aaro stellte fest, dass er sich in einer abgeriegelten Zone befand.
Was mochte seine Lehrerin denken, wenn er nicht am vereinbarten Treffpunkt erschien?
Marita Weckman, die Lehrerin der finnischen Abteilung an der Europaschule in Brüssel, blickte nervös über ihre Schülerschar. Aaro war noch immer nicht da. In der Ferne hörte man Sirenen heulen und ständig sausten Polizeiautos vorbei. Aaro würde doch nichts zugestoßen sein?
Die Schüler waren ebenfalls unruhig, aber aus einem anderen Grund. Alle wollten zurück in die Jugendherberge, um für die Abreise am nächsten Tag zu packen.
»Jaakko, hat dir Aaro irgendwas gesagt? Wo er hinwollte?«, fragte die Lehrerin einen Jungen mit Eichhörnchenzähnen.
Jaakko schob die Hände noch tiefer in die Taschen seiner Kakishorts und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Wir waren auf dem Platz und haben Postkarten gekauft. Da ist ihm so ein komischer Typ im Trenchcoat aufgefallen und er hat angefangen zu fantasieren …«
»Was für ein Typ? Könnte er etwas mit Aaros Verschwinden zu tun haben?«, fragte die Lehrerin erschrocken.
»Glaub ich nicht. Vielleicht geht Aaros Uhr ein bisschen nach«, sagte Jaakko und lachte trocken. Dabei wusste er genau, dass sogar die Tagesschau die Zeit nach Aaros Uhr stellen konnte.
3
Breit und würdevoll glitt der Leichenwagen die Viale Tiziano entlang. Über einer Piaggio-Reklametafel ballten sich dunkle Wolken. Die Blaulichter der entgegenkommenden Polizeiautos spiegelten sich im Lack des schwarzen Straßenkreuzers.
Im Innern des Wagens war es friedlich und still. Der Fahrer warf einen kurzen Blick auf die Polizeifahrzeuge und rückte die dunkle Krawatte unter dem weißen Hemdkragen gerade. Das schwarze Sakko war für die breiten Schultern eine Spur zu klein.
»Calmati, Giuliano«, sagte Lorenzo mit weicher Stimme vom Beifahrersitz. »Wir brauchen überhaupt nicht nervös zu werden.«
»Du hast leicht reden«, schnaubte Giuliano und warf sich eine Halspastille in den Mund. »Ich bin schließlich derjenige, der in die Schusslinie gerät, wenn es eng wird.«
»Du sagst einfach, was wir vereinbart haben«, beschwichtigte ihn Lorenzo. »Der Rest liegt in Gottes Hand.«
»Du elender Mönch«, knurrte Giuliano, ohne das unangenehm süßliche Lächeln ganz verbergen zu können, das sich auf seinem Gesicht breitmachen wollte. Sein Bruder wusste, wie man ihn bändigte.
»Versuch dir endlich zu merken, dass ich diesmal kein Mönch, sondern ein Kardinal bin«, fuhr Lorenzo in betont lehrerhaftem Ton fort. »Trage ich etwa die graue Kutte der Franziskaner oder die braune der Dominikaner? Nein. Der modebewusste Kardinal trägt Rot, das solltest du eigentlich wissen.«
»Ich hatte hier nicht mit der Spanischen Inquisition gerechnet«, zitierte Giuliano auf Englisch einen Satz, den alle Freunde von Monty Python kannten.
»Niemand rechnet mit der spanischen Inquisition«, stimmte Lorenzo mit perlendem Lachen ein. »Uns kann nichts passieren.«
Am Himmel zuckte ein heller Blitz, dem ein dumpfes Grollen folgte. Die brütende Hitze entlud sich in Form von Regen. In Rom konnte sich das Wetter im Nu ändern. Giuliano schaltete die Scheibenwischer ein. Der Regenguss kam ihm sehr gelegen, denn er würde den Diensteifer der Polizei lahmlegen.
»Achim sagt, im Polizeifunk herrscht lebhafter Verkehr«, berichtete Lorenzo und korrigierte den Sitz des hautfarbenen Ohrhörers im linken Ohr.
»Vergiss
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