Der Dunkle Code
Schandtat fort, ohne sich um die aufsteigende Panik im Saal zu scheren. Immer mehr Flüssigkeit spritzte er auf das einzigartige, kostbare Werk.
Auch die Kleider und die Haut der Menschen, die in unmittelbarer Nähe standen, bekamen Spritzer ab, was für chaotische Fluchtbewegungen und Entsetzensschreie sorgte. Die Menschen rempelten einander an, fielen zu Boden, krochen auf allen vieren und schrien. Jemand versuchte den Mann vom Altar wegzustoßen, aber dieser versetzte dem Angreifer einen Tritt ins Gesicht.
Aaro stand wie angewachsen da. Für einen kurzen Moment begegnete sein Blick wieder den Augen des Mannes. Sie glänzten vor gefühlloser Kälte.
Dann warf der Mann den leeren Kanister in die Menschenmenge und rannte aus dem Saal. Aaro sah sich um. Die Aufseher, die den amerikanischen Touristen hinausgeführt hatten, waren zurückgekommen, steckten aber am anderen Ende fest – sie hatten Mühe, durch die in Panik geratene Menge zu gelangen.
Inzwischen erfüllte das grauenhaft laute Tuten der Alarmsirene den Saal. Auf dem Gemälde Das Jüngste Gericht bildeten sich Blasen und Risse, Farbe löste sich und rann in Streifen zu Boden. Die Säure verrichtete ihr Zerstörungswerk an dem vierhundertfünfzig Jahre alten Fresko und niemand anders als ein zweiter Michelangelo würde es je wieder retten können.
Stumm starrte Aaro auf das zerstörte Wandgemälde und die Tür, durch die der Täter verschwunden war. Wer hatte einen Nutzen von so einem Sabotageakt? Was wollte der Attentäter mit seiner Tat zum Ausdruck bringen? Würde man ihn fassen und verurteilen?
Für kurze Zeit schien sich die ganze Welt in Zeitlupe zu bewegen. Aaro gab sich einen Ruck und versuchte, dem Mann hinterherzurennen, aber er kam nicht durch die Touristenmasse.
Dann war der Spuk plötzlich vorbei.
»Calmatevi, calmatevi« ,riefen die Aufseher und befahlen den Leuten, sich zu beruhigen, obwohl sie selbst von verzweifelter Wut erfasst zu sein schienen.
Weiteres Personal kam in den Saal, leitete die Menschen durch beide Ausgänge hinaus und versuchte, einigermaßen für Ordnung zu sorgen. Aaro hörte, wie die Leute aufgefordert wurden, die Ankunft der Polizei abzuwarten und als Zeugen auszusagen. Diese Touristen würden sich länger im Vatikan aufhalten als geplant, einige fingen bereits an zu murren, weil nicht alles nach ihren Vorstellungen lief.
Aaro half einer alten Frau vom Boden auf. In ihren Mantel hatte sich etwas Säure hineingefressen, zum Glück hatte aber die Haut nichts abbekommen. Die Frau bedankte sich ein ums andere Mal mit noch vom Schock zitternder Stimme.
Eine Frau in grauer Jacke, die zum Personal gehörte, nahm die alte Frau in ihre Obhut und gab Aaro mit einer Geste zu verstehen, dass auch er sich zum Ausgang begeben solle. Dort hatte sich allerdings ein Stau gebildet. Die Touristen, die draußen auf Einlass warteten, wischten sich den Schweiß von der Stirn. Sie begafften neugierig diejenigen, die in unmittelbarer Nähe des Attentäters gestanden hatten und nun an ihnen vorbei hinausgeleitet wurden. Das von allen Seiten widerhallende Stimmengewirr aus allen möglichen Sprachen wurde immer lauter und aufgeregter.
Aaro warf noch einen Blick auf das Altargemälde und stellte fest, dass die Schäden auf dem Jüngsten Gericht geringer waren, als er zunächst vermutet hatte. Die Säurespritzer waren relativ klein und vereinzelt, aus der Entfernung betrachtet fielen die Folgen des Zerstörungswerks gar nicht sonderlich auf. Die Restaurateure hatten es mit einer großen Herausforderung zu tun, jedoch nicht mit einer unmöglichen Aufgabe.
Die geringe Auswirkung des Attentats ließ Aaros Verwunderung nur noch wachsen. Was war der Sinn des Sabotageakts? Wollte hier jemand dem Rom-Tourismus schaden oder war das Motiv einfach der Hass auf die Kunst? Wie ein Moslem hatte der Mann nicht ausgesehen, weshalb kaum religiöse Motive hinter der Tat stecken konnten – Aaro wusste nämlich, dass Moslems in der Kunst keine Darstellung lebendiger Geschöpfe duldeten. Er erinnerte sich auch, im Reiseführer gelesen zu haben, dass jemand einmal mit dem Hammer auf Michelangelos Pietá -Statue losgegangen war, weil er sich angesichts des Meisterwerks selbst klein und mittelmäßig vorgekommen war. Darum stand die Skulptur heute hinter kugelsicherem Glas.
Auf einmal kam neue Bewegung in die Aufseher. Einer ging mit einem Funkgerät am Ohr zu den anderen, aufgeregte Worte wurden gewechselt und es wurde heftig gestikuliert.
Ein Uniformierter
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