Der dunkle Spiegel
erklärt wahrscheinlich auch die Weigerung Hardefusts, ihm seine Tochter zur Frau zu geben…«
»O ja, das erklärt sie. Und auch seine Verachtung. Aber er hat damals auch geschwiegen, sonst wäre es das zweite Mal gewesen. Denn wer immer dem Weinhändler Übles will, der muss jetzt diese alte Angelegenheit nur wieder zur Sprache bringen.«
»Hoffentlich kommt es nicht dazu. Es mag widernatürlich sein, aber mir scheint, er hat den Jungen wirklich geliebt.«
»Und solche Worte aus dem Munde einer keuschen Begine?«
»Ach, Aziza, unter dem Deckmantel der heiligen Ehe geschehen Dinge, die schlimmer sind als das.«
»Sag so was bloß nie vor falschen Ohren. Es gibt aber noch etwas, das ich erfahren habe. Erinnerst du dich an Leon de Lambrays?«
»Unseren Helfer in der Not? Hast du ihn wiedergetroffen?«
»Wie der Zufall es wollte – ja.«
»Der Zufall?« Almut betrachtete ihre schöne Halbschwester, doch auf ihren spitzen Tonfall reagierte sie nicht, sondern erzählte: »Er ist Jeans Halbbruder, Almut. Er hatte Geschäfte in Aachen und Köln zu erledigen und wollte dabei die Gelegenheit nutzen, ihn zu sehen. Aber als er eintraf, war der Junge schon tot. Er hat von der Anklage wegen Mordes nichts gewusst, sondern hat davon erst erfahren, als du dich diesem Gottesurteil unterziehen musstest. Übrigens, keine Sorge – er hat dich nicht erkannt an jenem Abend in der Schenke. Und ich habe ihm nicht verraten, dass du die Begine auf Abwegen warst.«
»Danke.«
»Sei nicht verschnupft, Almut. Du hast gesagt, du hättest kein Interesse an ihm. Außerdem bleibt er nicht hier, wahrscheinlich hat er die Stadt sogar schon verlassen. Aber, weißt du, was das Schlimmste ist? Er selbst hat seinen kleinen Bruder nach Köln gebracht. Weil er nämlich entdeckt hat, dass der Kaplan auf ihrem Gut dem Jungen nachstellte. Er wollte ihn damit dessen Einfluss entziehen.«
»Ein Junge, der zu lange in der Gesellschaft seiner Mutter und der Amme geblieben war, dessen Vater sich nichts aus ihm gemacht hat. Höflich, wohlerzogen und immer bemüht, allen zu gefallen. Armer Jean.«
»Armer Jean. Richtig. Ich habe Leon verschwiegen, was ich inzwischen von de Lipa wusste, ich wollte seine Trauer nicht vermehren. Ob das richtig war, weiß ich nicht.«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Vielleicht ist es gut so, und er erspart seiner Mutter damit ein Leid.«
Sie saßen schweigend beieinander, und Almut fühlte sich ihrer Schwester, die erst seit so kurzer Zeit ihrem Leben angehörte, seltsam nahe.
Dann stand Aziza auf und schüttelte ihre Gewänder glatt.
»Schwester, ich muss heimkehren, mein edler Herr hat seinen Besuch angekündigt, und es gibt Vorbereitungen zu treffen.«
»Dein edler Herr? Wer ist das?«
»Oh, Schwester, trotz aller Liebe und Zuneigung, das werde ich dir nicht verraten.«
»Na gut, dann schweig darüber. Aber ich hoffe, wir werden uns wieder begegnen.«
»Das will ich meinen. Bis dahin leb wohl, Schwester!«
Sie hauchte Almut einen zarten Kuss auf die Wange. Dann war sie mit raschelnden Röcken verschwunden.
Kurz darauf trat Almut mit Trine durch das Tor, einen von Gertrud wohlgefüllten Korb am Arm.
»Gehen wir zum Rhein hinunter, Trine.«
Auf dem Weg zwischen den Weingärten und Feldern war es ruhig, einige Bauern und Feldarbeiter gingen geschäftig ihren Arbeiten nach, und oben am Himmel trillerten die Lerchen. Es war windstill und sonnig, die Tage versprachen warm zu bleiben und Früchten, Korn und Reben zur Reife zu verhelfen. Sie erreichten das Ufer und suchten Almuts Lieblingsstelle auf. Ein schmaler Steg aus verwittertem Holz diente ihnen als Sitzplatz, von wo aus sie das Treiben auf dem Fluss beobachten konnten. Lastkähne, von starken, schweren Pferden getreidelt, glitten vorüber und brachten Heringsfässer, Pelze und Salz aus dem Norden, andere ruderten mit der Strömung talwärts, beladen mit den Tuchen aus Köln, Weinen aus dem Rheintal oder den Luxusgütern aus südlichen Ländern, um sie nach Flandern oder gar nach London zu bringen. Glücklich sog Almut die Luft ein, in der ein Hauch von Weltläufigkeit lag. Köln war Dreh- und Angelpunkt des Handels, und selbst in diesen unruhigen Tagen, in denen Streit zwischen der kirchlichen und der weltlichen Macht herrschte, pulste das Leben auf dieser gewaltigen Wasserstraße, die nicht nur Erzeugnisse aus vielen Ländern und fernen Gegenden in die Stadt brachte, sondern auch fremde Gedanken und neue Ideen. Und mit ihnen auch eine Toleranz
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