Der dunkle Spiegel
Ivo. Auf dem Weg nach Hause begleitet mich. Komm, Trine.«
Er sah auf sie nieder mit einem seltsamen Ausdruck in seinem strengen Gesicht. »Ich wünschte, so wäre es, Begine.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her, über die staubigen Pfade zwischen den Feldern und den Weingärten. Es war Vesperzeit, und keine Menschenseele begegnete ihnen. Erst als sie die Eigelsteinstraße erreichten, erblickten sie einen einzelnen Reiter mit einem Packpferd. Ein Reisender, der die Stadt verließ. Sie blieben stehen, um ihn passieren zu lassen. Er verlangsamte den Schritt seines Pferdes, und als er an Almut vorbeiritt, beugte er grüßend das Haupt. Doch er erkannte sie nicht. Almut erwiderte seinen Gruß mit einem kleinen Lächeln und sah ihm dann nach, wie er auf das Stadttor zuhielt. Dann wandte sie sich wieder ihrem Begleiter zu, der zu ihrer Verblüffung seine Kapuze so tief über den Kopf gezogen hatte, dass sein Gesicht völlig im Schatten lag. In diesem Augenblick fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und beinahe hätte sie den Mund geöffnet und etwas ausgesprochen, das besser verschwiegen wurde. Doch diesmal war Maria, die barmherzige Mutter, ihr gnädig und zähmte ihre Zunge. Sie hatte Jeans älteren Bruder, Leon de Lambrays, erkannt, den Sohn der Winzertochter Magalone, mit der Pater Ivo aus anderen Zeiten eine enge Freundschaft verband. Oder mehr. Viel mehr. Vielleicht sogar ein Sohn. Ein schöner, schwarzhaariger Mann. Ihre leichte Verstimmung war verflogen, und vor dem Tor verabschiedete sie sich mit einem Lächeln.
»Nun, Pater Ivo, wir sind da. Ich danke Euch für die Begleitung. Und ich danke Euch auch für Eure Hilfe und Eure Güte. Ich hoffe, Ihr habt Euch keinen Unbill deshalb eingehandelt.«
»O doch, das habe ich, Begine. Ich habe allzu oft meine Pflichten versäumt und habe mich ohne Erlaubnis aus dem Kloster entfernt. Außerdem habe ich gegen meine Gelübde verstoßen und mich viel mehr als notwendig in der Nähe eines spitzzüngigen Frauenzimmers aufgehalten. Mir steht eine lange und harte Bußzeit bevor, fürchte ich.«
»Das tut mir Leid.« Almut sah ihn mitfühlend an und las in dem strengen Gesicht. Was sie darin sah, weckte allerdings wieder das Teufelchen in ihr, und ihre Zunge löste sich aus der gnädigen Fessel Marias.
»Nun, Pater Ivo, Ihr mögt für all das büßen müssen. Aber… bereut Ihr es auch?«
Ein seltenes fröhliches Lächeln erhellte seine Züge und wischte alle Bitternis und Müdigkeit fort, als er antwortete: »Ihr stellt peinliche Fragen, Begine! Aber ich will sie Euch beantworten. Bereuen tue ich es, von ganzem Herzen und aufrichtig, Begine… nicht!«
»So wird Eurer hornhäutigen Seele die Vergebung nicht zuteil. Ich fürchte, Euch bleiben dann nur noch Glaube, Liebe und Hoffnung, diese drei.«
Und Pater Ivo nickte und beendete das Zitat: »…aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
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Über das Buch
Köln im Sommer des Jahres 1376. Im Haus des Weinhändlers de Lipa stirbt der erkrankte Jean, Sohn eines befreundeten burgundischen Weingutbesitzers, unter mysteriösen Umständen. Der Verdacht, ihn vergiftet zu haben, fällt auf die junge Begine Almut Bossart, die wenige Tage zuvor eine Arznei vorbeigebracht hatte, von der sich die Apothekerin ihres Konvents Heilung versprach. Almut, die mit dem Makel eines äußerst losen Mundwerks behaftet ist und sich schon mehrfach mit der Geistlichkeit der Stadt angelegt hat, ist somit gezwungen, ihre Unschuld und die ihres Konvents zu beweisen. Ihre ketzerischen Äußerungen erschweren dies jedoch und – rufen sogar den Inquisitor auf den Plan. Als sie sich beherzt daran macht, die wahren Umstände von Jeans Tod aufzudecken, dringt sie immer tiefer in die mysteriösen Vorgänge im Haus des Weinhändlers ein – und gerät schließlich sogar in Lebensgefahr. Doch mit Hilfe der maurischen Hure Aziza, des taubstummen Mädchens Trine und des Benediktinerpaters Ivo gelingt es Almut schließlich, ein Komplott aufzudecken – das aus Habgier, Eifersucht und verbotener Liebe geschmiedet wurde. Aber erst als es fast zu spät ist, begreift Almut, was das Abbild im dunklen Spiegel zu bedeuten hat…
Über die Autorin
Andrea Schacht, Jahrgang 1956, war lange Zeit als Wirtschaftsingenieurin in der Industrie und als Unternehmensberaterin tätig, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrer Muse – Katze Mira – in Bad Godesberg.
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