Bilder von A.
Damals, in Berlin, im Osten, aber vielleicht auch noch später, im Westen, davon erwähnte er in seinen Briefen nichts, fuhr A. immer mit dem Fahrrad durch die Stadt, zum Theater und vom Theater und alle sonstigen Wege hin und her. Manchmal brachte er mich mit dem Fahrrad nach Hause, dann setzte ich mich vorne quer auf die Fahrradstange, und A. lenkte sozusagen an mir vorbei durch die Straßen. Das war aber verboten, in der DDR war ja fast alles verboten, und einmal hielt uns ein Volkspolizist an:
»Absteigen!«
»Ja, warum denn?«
»Das ist verboten.«
Was denn nun schon wieder verboten sei?
»Einen Fahrgast auf der Fahrradstange zu transportieren!«
Aber warum denn um Himmels willen?
»Wegen der Gefährlichkeit!«
»Wegen der Gefährlichkeit!« A. und ich kriegten einen hysterischen Lachanfall, und der Volkspolizist nahm Reißaus,er bekam wohl Angst, wir könnten Verrückte sein, und dafür war er nicht zuständig. So fuhren wir also ruhig weiter durch die Stadt und noch ein paar Extrarunden durch den Friedrichshain, unseren »Central Park«, in dessen Mitte sich, als Symbol für das sprichwörtliche Gras, das über alles wächst, der »Mont Klamott« erhebt, aber auch Bäume, Sträucher und Blumen wachsen dort inzwischen üppig, als ob es nie einen Krieg gegeben hätte, und ein Weg schlängelt sich über den aufgehäuften Ruinen der zerstörten Stadt bis zu einer Aussichtsplattform, von der man Berlin in alle Himmelsrichtungen, also auch bis in den Westen hinübersehen kann. Den Weg hoch mußte A. sein Fahrrad natürlich schieben, aber hinunter rasten wir nur so und schrien in den Kurven, weil es so aufregend war.
Irgendwann tat mir der Hintern vom Auf-der-Stange-Fahren weh, gefährlich war es zwar nicht, aber sehr bequem war es auch nicht gerade. A. begleitete mich nach Hause in meine Kniprode-Straße, gleich hinter dem Friedrichshain, die gerade in Arthur-Becker-Straße umbenannt worden war, darüber regten sich die Leute in meinem Haus noch lange auf, »wozu denn das nun noch!« Arthur Becker war ein kommunistischer Antifaschist, der während des Spanienkrieges in den internationalen Brigaden gekämpft hatte und dann erschossen worden war, diese Geschichte kannte aber kein Mensch, und sie interessierte auch keinen Menschen in meinem Haus, es reichte schon, daß der kleine Park neben der S-Bahn-Station jetzt nach einem hingerichteten AntifaschistenAnton-Saefkow-Park hieß und daß es im ganzen Umkreis noch mindestens fünfzehn andere Antifa-Kämpfer-Straßen gab. Die Leute wollten ihre Kniprode-Straße wiederhaben, wer immer der Herr Kniprode gewesen sein mag, er war bestimmt kein Antifaschist, und die Straße habe doch schon immer so geheißen, noch in »Friedenszeiten«, zeterten die Leute. Heute wohnen sie, wenn sie noch leben, wieder in der Kniprode-Straße.
Der Radfahrer, das erste Bild von A. also. Ich malte es auf ein Brett, das ich aus meinem Bücherregal nahm, auf diese Weise entstand dort gleichzeitig eine höhere Abteilung für Kunstbücher. Der Radfahrer ist längs auf das Regalbrett gemalt, en f ace , er fährt direkt auf den Betrachter zu; ein Mann en f ace auf einem Fahrrad verliert jeden Raum, jedes Volumen. A. hält seine rechte Hand an die Stirn, er hat, wie so oft, Kopfschmerzen. Der Hintergrund ist changierend in Lila-Grau-Gelb mit starker Wolkenbildung gehalten, dramatisch. Das Längsformat war für die Abbildung von A.s langen Beinen nötig, die er mit allen Fluchttieren gemeinsam hatte, Gazellen, Giraffen, Antilopen.
Entflohen ist er seit langem.
Wenn ich an A. denke, bin ich verletzt, beleidigt, fühle mich abgewiesen und ausgenutzt, er ist mir fern, fremd, unverständlich, und ich liebe ihn.
Wir sind, wie man so sagt, im Bösen auseinandergegangen. Unversöhnt.
A. ist jetzt tot.
Gerade habe ich seine Briefe gezählt. Es sind viele über hundert, Gedichte, Notizen, Essays und Textentwürfe nicht mitgerechnet. Ich habe nicht bis zu Ende gezählt. Blätter über Blätter, manche vergilben schon, das Papier ist mürbe geworden und fängt an zu zerfallen, die Tinte ist an manchen Stellen verblichen, denn A. schrieb oft mit dem Füllfederhalter.
Ich werde ihm wahrscheinlich tausend Briefe geschrieben haben, Gedichte, Traumblätter, Zeichnungen, aus Büchern abgeschriebene Seiten und Manuskripte nicht mitgerechnet. Seine letzte Frau oder Freundin, ihren Namen habe ich mir nicht gemerkt, hat mir nach seinem Tod alle meine Briefe und Sendungen zurückgeschickt.
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