Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
der SCHULE übergeben (die privat und ordentlich und, vor allem, weiß ist). Keiner dieser Menschen hatte vorgegeben, etwas anderes zu sein, als das, was er ist – Profis, die besten auf ihrem Gebiet. Keiner hat ihn je an ein besonders gütiges Herz gedrückt, wie es in den historischen Romanen geschieht, die seine Mutter liest, und in die Jake auf der Suche nach »heißen Stellen« auch schon hineingelesen hat. Hysterische Romane nennt sein Vater sie manchmal, und manchmal »Unterwäsche-Ripper«. Das mußt ausgerechnet du sagen, sagt seine Mutter mit grenzenloser Verachtung hinter einer verschlossenen Tür, wo Jake lauscht. Sein Vater arbeitet. Sein Vater arbeitet für das Fernsehen, und Jake könnte ihn in einer Reihe anderer Männer identifizieren. Wahrscheinlich.
Jake weiß nicht, daß er alle Profis haßt, aber er haßt sie. Menschen haben ihn stets durcheinandergebracht. Er mag Treppen und benützt nicht den Fahrstuhl im Haus, den man selbst bedienen kann. Seine Mutter, die auf sexy Weise mager ist, geht oft mit üblen Freunden ins Bett.
Jetzt ist er auf der Straße, Jake Chambers ist auf der Straße, er hat »den Gehweg betreten.« Er ist sauber und hat gute Manieren, ist ansehnlich und feinfühlig. Er hat keine Freunde; nur Bekannte. Er hat sich nie die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, aber es kränkt ihn. Er weiß nicht und begreift nicht, daß sein langes Zusammensein mit den Profis ihn dazu gebracht hat, viele ihrer Merkmale anzunehmen. Mrs. Greta Shaw macht sehr professionelle Brote. Sie viertelt sie und schneidet die Brotkrusten weg, so daß er beim Essen während der vierten Turnstunde aussieht, als sollte er bei einer Cocktailparty sein und einen Drink in der anderen Hand halten und nicht einen Sportroman aus der Schulbibliothek. Sein Vater verdient eine Menge Geld, weil er ein Meister des »Tötens« ist – das bedeutet, eine zugkräftige Sendung gegen eine weniger gute bei einem Sender der Konkurrenz zu plazieren. Sein Vater raucht vier Schachteln Zigaretten täglich. Sein Vater hustet nicht, aber er hat ein verkniffenes Grinsen, das den Fleischmessern ähnelt, die sie in Supermärkten verkaufen.
Die Straße entlang. Seine Mutter läßt Geld für ein Taxi da, aber wenn es nicht regnet, geht er jeden Tag zu Fuß und schwingt seinen Schulranzen, ein kleiner Junge, der mit seinem blonden Haar und den blauen Augen sehr amerikanisch aussieht. Die Mädchen sind bereits auf ihn aufmerksam geworden (mit der Billigung seiner Mutter), und er scheut nicht mit der kindischen Arroganz kleiner Jungen vor ihnen zurück. Er spricht mit unwissentlicher Professionalität zu ihnen, und sie lassen verwirrt von ihm ab. Er mag Erdkunde und kegelt nachmittags. Sein Vater besitzt Aktien einer Firma, die automatische Anlagen zum Aufstellen der Kegel herstellt, aber die Kegelbahn, der Jake den Vorzug gibt, verwendet diese Anlage nicht. Er denkt nicht, daß er darüber nachgedacht hat, aber er hat es getan.
Während er die Straße entlang geht, kommt er an Brendio’s vorbei, wo die Schaufensterpuppen Pelzmäntel, zweireihig geknöpfte Edwardianische Anzüge und manche überhaupt nichts anhaben; einige sind »splitternackt«. Diese Schaufensterpuppen – diese »Modelle« – sind vollkommen professionell, und er haßt alles Professionelle. Er ist noch so jung, daß er noch nicht gelernt hat, sich selbst zu hassen, aber die Veranlagung ist da; der Same wurde in den verbitterten Boden seines Herzens gepflanzt.
Er kommt zur Ecke und bleibt mit dem Ranzen an seiner Seite stehen. Der Verkehr rast brüllend vorbei – grunzende Busse, Taxis, Volkswagen, ein großer Lastwagen. Er ist nur ein Junge, aber kein durchschnittlicher, und er sieht den Mann, der ihn tötet, aus dem Augenwinkel. Es ist der Mann in Schwarz, und er sieht nicht sein Gesicht, nur das wallende Gewand, die ausgestreckten Hände. Er fällt mit ausgestreckten Armen auf die Straße ohne dabei den Ranzen loszulassen, in dem sich Mrs. Greta Shaws außerordentlich professionelles Frühstück befindet. Ein kurzer Blick durch eine getönte Windschutzscheibe auf das entsetzte Gesicht eines Geschäftsmannes, welcher einen dunkelblauen Hut aufhat, in dessen Hutband eine kleine, kecke Feder steckt. Eine alte Frau auf der anderen Straßenseite schreit – sie hat einen schwarzen Hut mit Netz auf. Das schwarze Netz hat nichts Keckes an sich; es erinnert an den Schleier einer Trauernden. Jake empfindet lediglich Überraschung und ein übliches Gefühl vollkommener
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