Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
frische Blut die Nasen hochgeschnieft. Cort hätte wahrscheinlich höchstpersönlich einen neuen Strick über den Galgenbaum geworfen und sich gezwungen, auf der Falltür zu stehen, um es zu spüren; und Cort wäre bereit gewesen, sie wieder zu schlagen, sollte einer von ihnen weinen oder die Kontrolle über seine Blase verlieren. Und Cort hätte selbstverständlich recht gehabt. Roland stellte zum ersten Mal fest, daß er seine eigene Kindheit haßte. Er wünschte sich die Größe und die Schwielen und die Sicherheit des Alters.
Bevor er sich abwandte, brach er absichtlich einen Splitter vom Geländer ab und steckte ihn in die Brusttasche.
»Warum hast du das gemacht?« fragte Cuthbert.
Er wollte zu gerne etwas Hochtrabendes antworten: Oh, das Glück des Galgenbaums … aber er sah Cuthbert nur an und schüttelte den Kopf: »Nur damit ich es habe«, sagte er. »Damit ich es immer habe.«
Sie entfernten sich vom Galgen, setzten sich und warteten. Nach etwa einer Stunde fanden sich die ersten ein, größtenteils Familien, die in wackligen Karren und Kutschen gekommen waren und ihr Frühstück dabei hatten – Körbe voll Pfannkuchen, die mit Marmelade aus wilden Erdbeeren gefüllt waren. Roland spürte, wie sein Magen hungrig knurrte, und fragte sich wieder, voller Verzweiflung, wo die Würde und die Erhabenheit waren. Ihm war, als hätte Hax, der in seiner schmutzigen weißen Kleidung in seiner dampfigen unterirdischen Küche herumstolzierte, mehr Würde als dies hier. Er betastete den Splitter vom Galgenbaum mit ekelerfüllter Bestürzung. Cuthbert lag neben ihm und wahrte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.
Letztendlich war es gar nicht so schlimm, und Roland war froh darüber. Hax wurde mit einem offenen Wagen hergefahren, aber lediglich seine große Leibesfülle verriet ihn; man hatte ihm ein schwarzes Tuch über den Kopf gehängt. Ein paar warfen Steine, aber die meisten ließen sich nicht bei ihrem Frühstück stören.
Ein Revolvermann, den der Junge nicht kannte (er war froh, daß sein Vater das Los nicht gezogen hatte), führte den dicken Koch wachsam die Stufen hinauf. Zwei Soldaten der Wache waren ihm vorausgegangen und standen auf beiden Seiten der Falltür. Als Hax und der Revolvermann oben angekommen waren, warf der Revolvermann das Seil mit der Schlinge über den Querbalken und legte es dann dem Koch um den Hals, worauf er den Knoten festzog, bis dieser sich direkt unter dem linken Ohr befand. Die Vögel waren alle davongeflogen, aber Roland wußte, daß sie warteten.
»Möchtest du ein Geständnis machen?« fragte der Revolvermann.
»Ich habe nichts zu gestehen«, sagte Hax. Seine Worte waren deutlich vernehmbar, und seine Stimme hatte etwas seltsam Würdevolles, obschon sie von dem Tuch gedämpft wurde, das vor seinem Gesicht hing. Das Tuch flatterte leicht im sanften, angenehmen Wind, der aufgekommen war. »Ich habe das Antlitz meines Vaters nicht vergessen; es hat mich bei allem begleitet.«
Roland betrachtete die Menge genau und war beunruhigt von dem, was er sah – eine Art Sympathie? Vielleicht sogar Bewunderung? Er würde seinen Vater fragen. Wenn Verräter Helden genannt wurden (oder Helden Verräter, mutmaßte er in seiner stirnrunzelnden Art), so mußten dunkle Zeiten gekommen sein. Er wünschte sich, er hätte alles besser verstanden. Er dachte an Cort und das Brot, das Cort ihnen gegeben hatte. Er empfand Verachtung; der Tag würde kommen, da Cort ihm dienen würde. Vielleicht nicht Cuthbert; Cuthbert würde vielleicht unter Corts Trommelfeuer zerbrechen und Page oder Pferdebursche bleiben (oder unendlich viel schlimmer: ein parfümierter Diplomat, der seine Zeit in Empfangszimmern vertrödelte oder in Gegenwart von tatternden Königen oder Prinzen in trügerische Kristallkugeln blickte), aber er nicht. Das wußte er.
»Roland?«
»Ich bin hier.« Er ergriff Cuthberts Hand, und ihre Finger schlossen sich wie Eisen umeinander.
Die Falltür ging auf. Hax stürzte hinab. Und in dem plötzlich eingetretenen Schweigen war ein Laut zu hören: Ein Laut, wie ihn ein explodierender Kiefernknarzen in einer kalten Winternacht im Herd macht.
Aber es war nicht so schlimm. Die Beine des Kochs traten einmal zu einem breiten Y aus; die Menge gab ein zufriedenes Pfeifen von sich; die Wachsoldaten ließen ihre militärische Haltung sein und fingen an, lässig die Sachen einzusammeln. Der Revolvermann ging langsam die Stufen hinunter, stieg auf sein Pferd und ritt davon, wobei er achtlos
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