Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
kündete. Und sie wusste, dass Tim ihn liebte, wie sein Vater es getan hatte. Und wie sie es (oft gegen ihren Willen) selbst getan hatte.
Sie hatte sich insgeheim vor dem Tag gefürchtet, an dem ihr Sohn groß und stark genug sein würde, seinen Da’ auf diesem gefährlichen Pfad zu begleiten, aber jetzt bedauerte sie, dass dieser Tag nie kommen würde. Sai Smack und ihre zauberische Mathmatika waren so weit in Ordnung, aber Nell wusste, was ihr Sohn wirklich wollte, und hasste den Drachen, der es ihm gestohlen hatte. Vermutlich war es ein Weiberdrache gewesen, der nur sein Ei beschützen wollte, aber Nell hasste ihn trotzdem. Sie hoffte, das gepanzerte Miststück mit den gelben Augen würde sein eigenes Feuer verschlucken und mit einem lauten Knall explodieren, wie es alte Sagen manchmal schilderten.
Eines Tages, nicht allzu lange
nach dem Tag, an dem Tim früh heimgekommen war und sie weinend angetroffen hatte, kam Big Kells zu Nell auf Besuch. Tim hatte für zwei Wochen Arbeit gefunden – er half dem Farmer bei der Heuernte –, also war sie allein im Garten, in dem sie kniend Unkraut jätete. Als sie den Freund und Partner ihres verstorbenen Mannes sah, stand sie auf und wischte sich die erdigen Hände an der Rupfenschürze ab, die sie ihr Weddiken nannte.
Ein einziger Blick auf seine sauberen Hände und den sorgfältig gestutzten Bart genügte, ihr zu sagen, weshalb er gekommen war. In ihrer weit zurückliegenden Kindheit waren Nell Robertson, Jack Ross und Bern Kells dicke Freunde gewesen. Geschwister aus verschiedenen Würfen, hatten die Leute im Dorf manchmal gesagt, wenn sie die drei zusammen gesehen hatten; damals waren sie unzertrennlich gewesen.
Als sie zu jungen Burschen geworden waren, hatten beide Gefallen an ihr gefunden. Und obwohl sie beide Jungen liebte, war es Big Ross gewesen, für den ihr Herz brannte, den sie geheiratet und mit in ihr Bett genommen hatte (ob dies in der Reihenfolge geschehen war, wusste allerdings niemand zu sagen, und die beiden hat ten nie darüber gesprochen). Big Kells hatte das Ganze so gut weggesteckt, wie ein Mann das nur konnte. Er stand bei der Hochzeit an Ross’ Seite, und als der Prediger fertig war, schlang er die Seidenkordel für ihren Weg den Mittelgang hinunter um die beiden. Als Kells sie an der Kirchentür abnahm (obwohl man sie nie wirklich ablegte, wie jedermann wusste), küsste er sie beide und wünschte ihnen ein Leben voll langer Tage und angenehmer Nächte.
Obwohl es an dem Nachmittag, an dem er zu Nell in den Garten kam, recht heiß war, trug er eine Wolljacke. Er zog ein Stück lose geflochtener Seidenkordel aus der Tasche, genau wie sie es sich schon gedacht hatte. Als Frau wusste man so etwas. Selbst eine lange verheiratet gewesene Frau wusste so etwas, und Kells’ Herz hatte sich nie geändert.
»Willst du?«, fragte er. »Wenn ja, so verkaufe ich meine Parzelle an den alten Destry – er will sie haben, weil sie an sein Ostfeld grenzt – und behalte die hier. Der Zöllner kommt, wie du weißt, und wird die Hand ausstrecken. Wie willst du sie füllen, wenn du keinen Mann hast?«
»Das kann ich nicht, wie du weißt«, sagte sie.
»Dann sag mir ehrlich – wollen wir die Kordel um uns schlingen?«
Nell wischte sich nervös die Hände an ihrem Weddiken ab, obwohl sie schon so sauber waren, als hätte sie sie im Bach gewaschen. »Ich … Darüber muss ich erst nachdenken.«
»Was gibt’s da viel nachzudenken?« Er zog sein Halstuch heraus – heute hatte er es sorgfältig zusammengelegt in der Tasche mitgeführt, anstatt es sich nach Holzfällerart lose umzubinden – und fuhr sich damit über die Stirn. »Entweder du tust es, und wir leben wie bisher in Tree weiter – für den Jungen finde ich etwas, was ein wenig einbringt, obwohl er für die Arbeit im Wald noch viel zu klein ist –, oder du und er gehen auf Wanderschaft. Ich kann teilen, aber ich hab nichts zu verschenken, selbst wenn ich’s möchte. Ich hab nämlich nur ein einziges Stück Land, das ich verkaufen kann.«
Er will mich kaufen, um die leere Betthälfte auszufüllen, die Millicent hinterlassen hat, dachte sie. Aber das erschien ihr als unwürdiger Gedanke für einen Mann, den sie schon gekannt hatte, bevor er ein Mann geworden war, und der jahrelang mit ihrem geliebten Ehemann unter den dunklen und gefährlichen Bäumen am Ende des Eisenholzpfads gearbeitet hatte. Wer an einem Strang zieht, entzweit sich nicht, sagten alte Holzfäller. Gemeinsam ziehen, nie
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