Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
junger Tim, sondern füll einfach das Becken. Und nimm dich vor dem Pooky in Acht, wenn ich bitten darf.«
Der Junge kniete hin, stellte das Becken vor sich ab und sah in den träge fließenden kleinen Bach. Das Wasser wimmelte von dicken, weißen Käfern. Ihr übergroßer Kopf war schwarz, die Augen saßen auf Stielen. Sie sahen wie im Wasser lebende Maden aus, die sich offenbar bekriegten. Nach kurzer Beobachtung erkannte Tim, dass sie einander auffraßen. Ihm drehte sich der Magen um.
Über ihm erklang ein Geräusch, als würde jemand mit der flachen Hand langsam über einen langen Streifen Schleifpapier streichen. Er hob seine Lampe. Am untersten Ast des Eisenholzbaums zu seiner Linken hing in zahlreichen Windungen eine riesige, rötliche Schlange. Ihr spatenförmiger Schädel, größer als der Waschkessel seiner Mama, war Tim zugewandt. Bernsteingelbe Augen mit schwarzen Pupillenschlitzen beobachteten ihn schläfrig. Eine gabelförmig gespaltene, lange Zunge erschien, tastete die Luft ab und wurde laut schlürfend wieder eingezogen.
Tim füllte das Becken mit dem stinkenden Wasser, so schnell er konnte, aber weil er vor allem auf die Schlange achtete, die ihn von ihrem Ast herab beobachtete, gerieten mehrere Käfer auf seine Hände, wo sie sofort zu beißen begannen. Er wischte sie mit einem angewiderten Schmerzensschrei ab, dann trug er das Becken ans Lagerfeuer zurück. Das tat er langsam und vorsichtig, um keinen einzigen Tropfen davon abzubekommen, weil das brackige Wasser von Lebewesen wimmelte.
»Wenn das Trink- oder Waschwasser sein soll …«
Der Zöllner betrachtete ihn mit schräg gehaltenem Kopf, als wartete er geduldig darauf, dass Tim den Satz noch zu Ende brachte, aber das konnte er nicht. Er stellte nur das Becken neben seinem Gastgeber ab, der mit seinem sinnlosen Loch in der Erde fertig zu sein schien.
»Weder Trink- noch Waschwasser, obwohl wir es für beides verwenden könnten, wenn wir wollten.«
»Ihr scherzt, Sai! Es ist faulig! «
»Die Welt ist faulig, junger Tim, aber wir lernen, dagegen unempfindlich zu sein, oder nicht? Wir atmen ihre Luft, essen ihre Nahrung, leben nach ihren Vorgaben. Ja, das tun wir. Aber lassen wir das. Hock dich hin.«
Der Zöllner deutete auf eine Stelle, dann kramte er in seiner Gunna. Tim beobachtete angewidert, wenngleich auch fasziniert, wie die Käfer einander auffraßen. Würde das weitergehen, bis nur noch einer – der Stärkste – übrig war?
»Ah, da ist er ja!« Sein Gastgeber brachte einen Stahlstab zum Vorschein, an dessen Ende eine weiße Kugel saß, die wie aus Elfenbein wirkte. Dann hockte er sich so hin, dass sie das Silberbecken mit dem von Leben wimmelnden Wasser zwischen sich hatten.
Tim starrte den Stahlstab in der behandschuhten Hand an. »Ist das ein Zauberstab?«
Der Zöllner schien zu überlegen. »Das könnte man so sagen. Obgleich er sein Dasein als Schaltknüppel in einem Dodge Dart begonnen hat. Amerikas Sparauto, junger Tim.«
»Was ist Amerika?«
»Ein Königreich voller Spielsachen liebender Idioten. Es hat nichts mit unserem Palaver zu schaffen. Aber merk dir eines – und erzähl es deinen Kindern, solltest du je das Unglück haben, Vater zu werden: In der richtigen Hand kann jedes Ding Magie bewirken. Jetzt pass auf!«
Der Zöllner warf seinen Mantel zurück, um den Arm ganz frei zu haben, und schwenkte den Stab über dem Becken mit dem schlammigen, von Lebewesen wimmelnden Wasser. Vor Tims weit aufgerissenen Augen wurden die Käfer still … trieben an die Oberfläche … verschwanden. Als der Zöllner den Stab schließlich ein weiteres Mal schwenkte, verschwand auch der Schlamm. Sogleich sah das Wasser wirklich trinkbar aus. Auf der Oberfläche erwiderte Tims Spiegelbild seinen staunenden Blick.
»Götter! Wie habt Ihr …«
»Schweig, dummer Junge! Wenn du das Wasser auch nur im Geringsten bewegst, wirst du nichts sehen!«
Als der Zöllner seinen improvisierten Zauberstab zum dritten Mal über dem Becken schwenkte, verschwand Tims Spiegelbild, wie die Käfer und der Schlamm verschwunden waren. Ersetzt wurde es durch eine leicht zitternde Ansicht von Tims Häuschen. Er sah seine Mutter, und er sah Bern Kells. Sein Stiefvater kam aus der rückwärtigen Diele, wo er immer seinen Koffer aufbewahrte, in die Küche geschwankt. Nell stand zwischen Tisch und Herd; sie trug das Nachthemd, in dem Tim sie zuletzt gesehen hatte. Kells’ Augen waren gerötet und drohten aus den Höhlen zu quellen. Das schüttere Haar
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