Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
klebte ihm an der Stirn. Wäre Tim dort in der Küche gewesen, statt nur ihr Bild zu sehen, hätte er den Fusel gerochen, dessen Dunst den Mann umgab, das wusste er. Sein Mund bewegte sich, und Tim konnte die Worte lesen, die seine Lippen bildeten: Wie hast du meinen Koffer aufgekriegt?
Nein!, wollte Tim rufen. Nicht sie, ich! Aber seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Gefällt dir das?«, flüsterte der Zöllner. »Zusehen macht Spaß, was?«
Nell wich erst an die Speisekammertür zurück, dann wollte sie flüchten. Big Kells bekam sie zu fassen, als sie an ihm vorbeizukommen versuchte; er packte sie mit einer Hand an der Schulter und wickelte die andere in ihr Haar. Er schüttelte sie wie eine Stoffpuppe, bevor er sie gegen die Wand warf. Er stand heftig schwankend vor ihr, als könnte er jeden Augenblick zu Boden gehen. Aber er hielt sich aufrecht, und als Nell wieder zu flüchten versuchte, griff er nach dem schweren Keramikkrug, der neben dem Ausguss stand – der Wasserkrug, aus dem Tim zuvor ein Tuch angefeuchtet hatte, um es ihr auf die geschwollene Wange zu legen –, und schlug ihn ihr krachend mitten auf die Stirn. Der Krug zersplitterte, sodass Kells nur noch den Henkel in der Hand hielt. Er ließ ihn fallen, riss seine neue Ehefrau hoch und deckte sie mit einem Hagel von Schlägen ein.
» NEIN! «, kreischte Tim.
Die Wasseroberfläche schlug kleine Wellen, und die Vision verschwand.
Tim sprang auf
und stürzte auf Bitsy zu, die ihn überrascht anstarrte. In seiner Vorstellung ritt Jack Ross’ Sohn bereits auf dem Eisenholzpfad zurück und trieb Bitsy mit Hackenstößen an, bis sie mit Karacho den Pfad hinuntergaloppierte. In Wirklichkeit holte der Zöllner Tim ein, bevor der drei Schritte weit gekommen war, und zerrte ihn ans Lagerfeuer zurück.
»Hoppla, junger Tim, nicht so voreilig! Unser Palaver mag wohl gut fortgeschritten sein, aber es ist noch längst nicht zu Ende.«
»Lasst mich los! Ich muss zu ihr! Sie stirbt, wenn er sie nicht schon umgebracht hat! Oder … war das nur Glammer? Ein kleiner Scherz von Euch?« Dann war es der gemeinste Scherz gewesen, den man einem Jungen, der seine Mutter liebte, spielen konnte, fand Tim. Trotzdem hoffte er, dass dies nur ein grausamer Scherz gewesen war. Er hoffte, dass der Steuereintreiber lachend sagen würde: Diesmal hab ich dich echt reingelegt, junger Tim, was?
Der Zöllner schüttelte den Kopf. »Kein Scherz und kein Glammer, denn das Becken lügt nie. Es ist leider schon alles passiert. Schrecklich, was ein Mann im Suff einer Frau antun kann, was? Aber sieh noch mal hin. Vielleicht findest du diesmal etwas Trost.«
Tim sank vor dem Becken auf die Knie. Der Zöllner schwenkte seinen Stahlstab über dem Wasser. Ein verschwommener Dunst schien darüber hinwegzuziehen … Möglicherweise war das aber auch nur eine Illusion, weil Tims Augen voller Tränen waren. Dann verschwand dieser Nebel. Nun sah er auf dem Wasser die Veranda ihres Häuschens, auf der eine Frau, die kein Gesicht zu haben schien, sich über Nell beugte. Langsam, ganz langsam schaffte es Nell, mithilfe der Unbekannten auf die Beine zu kommen. Die Frau ohne Gesicht drehte sie zur Haustür, und Nell ging mit schlurfenden Schritten dorthin.
»Sie lebt!«, rief Tim aus. »Meine Mama lebt!«
»Das tut sie wohl, junger Tim. Sie blutet zwar, ist aber ungebeugt. Nun ja, vielleicht ist sie zumindest ein wenig gebeugt.« Der Zöllner schmunzelte.
Diesmal hatte Tim darauf geachtet, nicht ins Becken, sondern darüber hinweg zu schreien, sodass die Vision erhalten blieb. Jetzt erkannte er, dass die Frau, die seiner Mutter half, deshalb kein Gesicht zu haben schien, weil sie einen Schleier trug, und dass der kleine Esel, den er am äußersten Rand des zitternden Bildes sah, Sunshine war. Er hatte Sunshine schon oft gefüttert, getränkt und bewegt. Das hatten alle Schüler der kleinen Privatschule in Tree getan; es gehörte zu dem, was die Schulleiterin als ihren »Unterricht« bezeichnete, aber Tim hatte nie gesehen, dass sie ihren Esel tatsächlich ritt. Wäre er gefragt worden, hätte er gesagt, das könne sie vermutlich nicht. Wegen ihren Schüttelanfällen.
»Das ist die Witwe Smack! Was tut die in unserem Haus?«
»Am besten fragst du sie das selbst, junger Tim.«
»Habt Ihr sie irgendwie hingeschickt?«
Der Zöllner schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe zwar viele Hobbys, aber Damen in Not zu retten, das gehört nicht unbedingt dazu.« Die breite Hutkrempe beschattete
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