Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
dass du das verstanden hast.«
Aber der Tyger reagierte auch diesmal nicht. Er saß nur da und wartete.
Ein Tropfen … zwei … drei … das Röhrchen war nun halb leer … vier … fü…
Plötzlich beulte sich das Fell des Tygers wellig aus, als säßen darunter Lebewesen, die sich befreien wollten. Die Lefzen schmolzen weg und ließen sein ganzes Gebiss sehen, zogen sich dann aber wieder zusammen, sodass alle Zähne wieder bedeckt waren. Dann ließ der Tyger vor Schmerz oder Wut ein gedämpftes Brüllen hören, das die ganze Lichtung zu erschüttern schien.
Tim, der sich vor Schreck hingesetzt hatte, rutschte auf dem Hosenboden von ihm weg.
Die smaragdgrünen Augen schienen unablässig aus ihren Höhlen quellen zu wollen und federten jedes Mal wieder zurück. Der peitschende Schwanz wurde eingezogen, kam wieder zum Vorschein und verschwand erneut. Der Tyger taumelte davon, diesmal zum Rand des Abgrunds über dem Großen Canyon.
»Halt!«, kreischte Tim. »Du stürzt ab!«
Der Tyger torkelte wie betrunken den Abgrund entlang, geriet dabei sogar mit einer Tatze darüber hinaus und trat Steine los. Als er hinter dem Käfig vorbeiging, in dem er gefangen gewesen war, verschwammen seine Streifen und verblassten dann. Auch der Kopf veränderte die Form: Er wurde erst weiß und dann dort, wo die Schnauze gewesen war, leuchtend gelb. Tim konnte ein lautes Knirschen hören, als formierten sich alle Knochen neu.
Jenseits des Käfigs brüllte der Tyger ein weiteres Mal – nur wurde jetzt ein menschlicher Schrei daraus. Die sich wandelnde, verschwommene Gestalt richtete sich auf den Hinterläufen auf, und wo zuvor die Tatzen gewesen waren, sah Tim auf einmal alte, schwarze Stiefel. Die Krallen wurden zu silbernen Symbolen: Monde, Kreuze, Spiralen.
Das gelbe Schädeldach des Tygers wuchs weiter in die Höhe, bis es der spitze Hut war, den Tim in dem Blecheimer gesehen hatte. Das Weiße darunter, wo der Brustlatz des Tygers gewesen war, verwandelte sich in einen weißen Bart, der in dem kalten, windigen Sonnenschein glitzerte. Er glitzerte, weil er voller Rubine, Smaragde, Saphire und Diamanten war.
Dann war der Tyger verschwunden, und Maerlyn von dem Eld stand in Person vor dem staunenden Jungen.
Er lächelte nicht, wie er es in Tims Vision getan hatte – aber das war natürlich nie seine Vision gewesen. Das war der Glammer des Zöllners gewesen, der ihn ins Verderben hatte locken sollen. Der wahre Maerlyn betrachtete Tim freundlich, aber auch ernst. Der Wind ließ sein weißes Seidengewand um einen Körper flattern, der dünn wie ein Skelett war.
Tim ließ sich auf ein Knie nieder, senkte den Kopf und legte eine zitternde Faust an die Stirn. Er versuchte Heil, Maerlyn zu sagen, aber seine Stimme versagte, sodass er nur ein heiseres Krächzen herausbrachte.
»Erhebe dich, Tim, Sohn von Jack«, sagte der Magier. »Aber schraub zuvor das Fläschchen zu. Es enthält noch ein paar Tropfen, die du gewisslich noch brauchen wirst.«
Tim hob den Kopf und sah die hohe Gestalt neben dem Käfig, in dem sie gefangen gewesen war, fragend an.
»Für deine Mutter«, sagte Maerlyn. »Für die Augen deiner Mutter.«
»Sprecht Ihr wahr?«, flüsterte Tim.
»Wahr wie die Schildkröte, die die Welt trägt. Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, große Tapferkeit bewiesen – und nicht wenig Dummheit gezeigt, aber davon wollen wir nicht reden, weil beides oft zusammengehört, vor allem bei unerfahrenen Jungen – und mich aus einer Gestalt befreit, in der ich viele, viele Jahre lang gefangen war. Dafür sollst du belohnt werden. Schraub jetzt das Fläschchen zu, und steh auf.«
»Sage meinen Dank«, sagte Tim. Seine Hände zitterten, und seine Augen schwammen in Tränen, aber er schaffte es, das Fläschchen zuzuschrauben, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Ich dachte, Ihr wärt der Wächter des Balkens, aber Daria hat mir gesagt, dass Ihr das nicht seid.«
»Und wer ist Daria?«
»Eine Gefangene wie Ihr. In einer kleinen Maschine eingesperrt, die die Sumpfleute im Fagonard mir geschenkt haben. Ich glaube, sie ist tot.«
»Beileid zu deinem Verlust, mein Sohn.«
»Sie war meine Freundin«, sagte Tim einfach.
Maerlyn nickte. »Die Welt ist traurig, Tim Ross. Was mich betrifft, war es sein kleiner Scherz, mich in eine Raubkatze zu verwandeln, weil dies der Balken des Löwen ist. Jedoch nicht in Aslans Gestalt, denn das würde weitaus mehr Magie erfordern, als er welche besitzt … obwohl er sie gern besäße, aye. Um
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