Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schieße nicht mit der Hand; wer mit der Hand schießt, hat das Gesicht seines Vaters vergessen.
Ich schieße mit dem Verstand.‹«
»So ist es immer gewesen, Susannah Dean.«
»›Ich töte nicht mit meiner Waffe; wer mit seiner Waffe tötet, hat das Gesicht seines Vaters vergessen.
Ich töte mit dem Herzen.‹«
»Dann TÖTE sie, bei deinem Vater!« brüllte Roland. »TÖTE SIE ALLE!«
Ihre rechte Hand war ein Flirren zwischen der Lehne des Rollstuhls und dem Griff von Rolands Sechsschüsser. Diesen hatte sie binnen einer Sekunde herausgeholt, senkte die linke Hand und spannte den Hahn mit Bewegungen, die fast so geschwind und zierlich wie der Flügelschlag eines Kolibris waren. Sechs Schüsse hallten über das Tal, und fünf der sechs Steine auf dem Findling verschwanden von der Bildfläche.
Einen Augenblick sagte keiner etwas – sie atmeten nicht einmal, schien es –, während die Echos ersterbend hin und her hallten. Selbst die Krähen waren verstummt, zumindest vorübergehend.
Der Revolvermann unterbrach das Schweigen mit drei tonlosen und dennoch seltsam bewegten Worten: »Das war ausgezeichnet.«
Susannah betrachtete die Waffe in ihrer Hand, als hätte sie sie vorher noch nie gesehen. Ein Rauchfähnchen stieg in der windstillen Luft vollkommen senkrecht vom Lauf empor. Dann steckte sie sie langsam wieder in das Halfter unter dem Busen.
»Gut, aber nicht perfekt«, sagte sie schließlich. »Ich habe einen verfehlt.«
»Wirklich?« Er ging zu dem Findling und hob das verbliebene Stück Stein hoch. Er betrachtete es, dann warf er es ihr zu.
Sie fing den Stein mit der Linken; die Rechte behielt sie am Halfter der Waffe, wie er mit Wohlgefallen sah. Sie schoß besser und natürlicher als Eddie, hatte diese spezielle Lektion aber nicht so schnell gelernt wie Eddie. Wäre sie während der Schießerei in Balazars Nachtklub bei ihnen gewesen, hätte sie es vielleicht. Jetzt, stellte Roland fest, lernte sie auch das. Sie betrachtete den Stein und sah die kaum zwei Millimeter tiefe Kerbe an der oberen Ecke.
»Du hast ihn nur gestreift«, sagte Roland und kam zu ihr zurück, »aber manchmal reicht das. Wenn man einen Menschen streift, aus dem Gleichgewicht bringt…« Er verstummte. »Warum siehst du mich so an?«
»Du weißt es nicht, was? Du weißt es wirklich nicht.«
»Nein. Dein Denken ist mir häufig verschlossen, Susannah.«
In seiner Stimme klang nichts Defensives mit, und Susannah schüttelte resigniert den Kopf. Der rasende Ringelreihen ihrer Persönlichkeit raubte ihm manchmal den Nerv. Sein scheinbares Unvermögen, jemals etwas anderes auszusprechen als das, was ihm gerade durch den Kopf ging, bewirkte dasselbe bei ihr. Er war der offenste Mensch, dem sie jemals begegnet war.
»Na gut«, sagte sie, »dann will ich dir sagen, warum ich dich so ansehe, Roland. Weil du mir einen üblen Streich gespielt hast. Du hast gesagt, du würdest mich nicht schlagen, könntest mich nicht schlagen, selbst wenn ich gemein wäre… aber entweder hast du gelogen, oder du bist dumm, und ich weiß, daß du nicht dumm bist. Die Menschen schlagen nicht immer mit der Hand, wie jeder Mann und jede Frau meiner Rasse bestätigen kann. Wo ich herkomme, kennen wir einen kleinen Reim: ›Stock und Stein brechen mein Gebein…‹«
»›… doch Spott wird mir nichts tun‹«, sprach Roland weiter.
»Nun, ganz so heißt es bei uns nicht, doch ich glaube, es kommt ganz gut hin. Aber es ist dummes Zeug – wie man es auch sagt. Was du getan hast, nennt man nicht umsonst verbale Prügel. Deine Worte haben mir weh getan, Roland – möchtest du hier stehen und mir sagen, du hättest das nicht gewußt?«
Sie saß in ihrem Rollstuhl und sah voll strahlender, strenger Neugier zu ihm auf, und Roland dachte – nicht zum erstenmal –, daß die blassn Wichsah aus Susannahs Land entweder sehr tapfer oder sehr dumm gewesen sein mußten, ihr in die Quere zu kommen, Rollstuhl hin oder her. Und da er sie kennengelernt hatte, glaubte er nicht, daß Tapferkeit die Antwort war.
»Ich habe nicht daran gedacht, ob sie dir weh tun würden, und es, war mir auch egal«, sagte er geduldig. »Ich habe gesehen, wie du die Zähne gefletscht hast und beißen wolltest, darum habe ich dir einen Stock zwischen die Kiefer geschoben. Und es hat funktioniert… oder nicht?«
Jetzt zeigte ihr Ausdruck gekränktes Erstaunen. »Du Dreckskerl!«
Statt zu antworten, holte er die Waffe aus dem Halfter, fummelte mit den verbliebenen zwei Fingern seiner
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