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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gottverdammte Junge …
    »Sag mir, woran du dich erinnern kannst«, bat er Jake.
    »Das ist nicht viel. Und es ergibt sowieso keinen Sinn mehr.«
    »Sag es mir. Vielleicht kann ich den Sinn erkennen.«
    »Da war ein Ort… derjenige vor diesem. Ein hoher Ort mit vielen Zimmern und einem Dachgarten, wo man hohe Gebäude und Wasser sehen konnte. Im Wasser stand eine Statue.«
    »Eine Statue im Wasser?«
    »Ja. Eine Frau mit Krone und Fackel.«
    »Erfindest du das?«
    »Muß wohl so sein«, antwortete der Junge resigniert. »Da waren Dinge, mit denen man auf der Straße fahren konnte. Große und kleine. Gelbe. Eine ganze Menge gelbe. Ich ging zu Fuß zur Schule. Neben den Straßen waren Betonwege. Fenster, in die man hineinschauen konnte, und Puppen mit Kleidern an. Die Puppen verkauften die Kleider. Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber die Puppen verkauften die Kleider.«
    Der Revolvermann schüttelte den Kopf und suchte im Gesicht des Jungen nach Lügen. Er fand keine.
    »Ich ging zu Fuß zur Schule«, wiederholte der Junge beharrlich. »Und ich hatte eine…« Er kniff die Augen zusammen, seine Lippen bewegten sich suchend, »…eine braune… Bücher… tasche. Ich hatte Essen dabei. Und ich trug…«, wieder dieses Suchen, schmerzvolles Suchen, »…eine Krawatte.«
    »Eine was?«
    »Ich weiß nicht.« Die Finger des Jungen machten eine langsame, unbewußte Geste des Knüpfens am Hals – eine Geste, die der Revolvermann mit Hängen assoziierte. »Ich weiß nicht. Es ist alles fort.« Er wandte den Blick ab.
    »Darf ich dich in Schlaf versetzen?« fragte der Revolvermann.
    »Ich bin nicht müde.«
    »Ich kann dich müde machen, und ich kann dafür sorgen, daß du dich wieder erinnerst.«
    Jake fragte zweifelnd: »Wie kannst du das machen?«
    »Damit.«
    Der Revolvermann nahm eine Patrone aus dem Gürtel und wirbelte sie zwischen den Fingern. Die Bewegung war geschickt und ging wie geschmiert. Die Patrone wirbelte mühelos vom Daumen zum Zeigefinger, vom Zeigefinger zum Mittelfinger, vom Mittelfinger zum Ringfinger, vom Ringfinger zum kleinen Finger. Sie verschwand und kam wieder zum Vorschein; schien einen Sekundenbruchteil zu verharren und wanderte dann zurück. Die Patrone spazierte über die Finger des Revolvermannes. Die Finger selbst bewegten sich wie ein Perlenvorhang im Wind. Der Junge sah zu, seine anfänglichen Zweifel wichen offenem Entzücken, dann Faszination, schließlich dämmernder, stummer Ausdruckslosigkeit. Die Augen fielen zu. Die Patrone tanzte hin und her. Jake machte die Augen wieder auf, verfolgte den unablässigen, behenden Tanz zwischen den Fingern des Revolvermannes noch eine Weile, dann fielen die Augen wieder zu. Der Revolvermann machte weiter, aber der Junge machte die Augen nicht noch einmal auf. Der Junge atmete mit unerschütterlicher, träger Ruhe. War das ein Teil davon? Ja. Es hatte eine gewisse Schönheit, eine Logik, gleich den weißen spitzenähnlichen Auswüchsen an den Rändern harter blauer Eisblocks. Er schien den Klang von Glocken im Wind zu hören. Der Revolvermann schmeckte nicht zum ersten Mal den glatten, bleischweren Geschmack kranker Seelen. Die Patrone in seinen Fingern, die er mit so unbekannter Anmut manipuliert hatte, war plötzlich untot, gräßlich, die Spur eines Ungeheuers. Er ließ sie in die Handfläche fallen und ballte mit schmerzhafter Anstrengung die Faust. Dinge wie Vergewaltigung existierten in dieser Welt. Vergewaltigung und Mord und unaussprechliche Praktiken, und sie alle waren für das Gute, für das verdammte Gute, für den Mythos, für den Gral, für den Turm. Ah, irgendwo befand sich der Turm, streckte seine schwarze Masse himmelwärts, und der Revolvermann hörte in seinen von der Wüste versengten Ohren den leisen, lieblichen Klang von Glocken im Wind.
    »Wo bist du?« fragte er.
     
    Jake Chambers geht mit seinem Schulranzen die Treppe hinunter. Erdkunde, Wirtschaftsgeographie. Ein Notizblock, ein Kugelschreiber, ein Frühstückspaket, das die Köchin seiner Mutter, Mrs. Greta Shaw für ihn in der Küche aus Chrom und Kunststoff gemacht hat, wo ewig der Ventilator surrt und fremde Gerüche aufsaugt. In diesem Frühstückspaket hat er ein Erdnußbutter- und ein Geleebrot, ein Salat-und-Zwiebelbrot mit Sauce bolognaise und vier Oreo-Plätzchen. Seine Eltern hassen ihn nicht, aber sie scheinen ihn übersehen zu haben. Sie haben abgedankt und ihn Mrs. Greta Shaw, dem Kindermädchen, im Sommer einem Privatlehrer und die restliche Zeit

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