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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Kapuze.«
    Der Revolvermann beugte sich nach vorne, und etwas in seinem Gesichtsausdruck veranlaßte den Jungen, ein wenig zurückzuschrecken. »Wie lange ist das her?«
    »Ich… ich…«
    Der Revolvermann sagte geduldig: »Ich werde dir nicht weh tun.«
    »Ich weiß nicht. Ich kann mir die Zeit nicht merken. Jeder Tag ist wie der andere.«
    Der Revolvermann fragte sich zum ersten Mal bewußt, wie der Junge an diesen Ort gekommen war, mitten in die trockene und mörderische Wüste, die sich meilenweit ringsum erstreckte. Aber das sollte nicht seine Sorge sein, wenigstens vorerst nicht. »Dann schätze. Ist es lange her?«
    »Nein. Nicht lange. Ich bin noch nicht lange hier.«
    Das Feuer in ihm loderte wieder empor, und er griff mit etwas zitternden Händen nach der Kanne. Ein Stück des Kinderliedes ging ihm wieder durch den Kopf, doch dieses Mal sah er nicht das Gesicht seiner Mutter vor sich, sondern das von der Narbe entstellte Gesicht Alices, die in der jetzt entvölkerten Stadt Tull seine Geliebte gewesen war. »Wie lange? Eine Woche? Zwei? Drei?«
    Der Junge sah ihn geistesabwesend an. »Ja.«
    »Was nun?«
    »Eine Woche. Oder zwei. Ich bin nicht herausgekommen. Er hat nicht einmal etwas getrunken. Ich dachte, er könnte der Geist eines Priesters sein. Ich hatte Angst. Ich hatte fast die ganze Zeit Angst.« Sein Gesicht erbebte wie ein Kristall kurz vor dem endgültig letzten Ton, der ihn zum Bersten bringt. »Er hat nicht einmal ein Feuer gemacht. Er saß einfach nur da. Ich weiß nicht einmal, ob er geschlafen hat.«
    Nahe! Er war ihm näher, als er es jemals gewesen war. Obwohl er im höchsten Grade ausgetrocknet war, fühlten sich seine Hände leicht feucht an; schmierig.
    »Ich habe Dörrfleisch«, sagte der Junge.
    »In Ordnung«, sagte der Revolvermann. »Gut.«
    Der Junge stand auf, um es zu holen, und seine Knie knackten ein wenig. Er ist voller Saft, dachte der Revolvermann. Er trank wieder aus der Kanne. Er ist voller Saft, und er stammt nicht von hier.
    Jake kam mit einem Stapel Dörrfleisch auf einem von der Sonne gebleichten Brettchen zurück. Das Fleisch war zäh, knorpelig und so salzig, daß die offenen Lippen des Revolvermannes brannten. Er aß und trank bis er sich träge fühlte, dann lehnte er sich zurück. Der Junge aß nur wenig.
    Der Revolvermann sah ihn unverwandt an, und der Junge betrachtete ihn ebenfalls. »Woher kommst du, Jake?« fragte er schließlich.
    »Ich weiß nicht.« Der Junge runzelte die Stirn. »Ich wußte es. Als ich hierher kam, da wußte ich es. Aber inzwischen ist alles verschwommen, wie ein Alptraum, wenn man aufgewacht ist. Ich habe jede Menge Alpträume.«
    »Hat dich jemand hergebracht?«
    »Nein«, sagte der Junge. »Ich war einfach hier.«
    »Deine Worte ergeben überhaupt keinen Sinn«, sagte der Revolvermann unverblümt.
    Der Junge schien mit einem Mal kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen. »Ich kann nichts dafür. Ich war einfach hier. Und jetzt wirst du weggehen, und ich werde hier verhungern, weil du fast mein ganzes Essen aufgegessen hast. Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein. Es gefällt mir nicht. Es ist unheimlich.«
    »Hör auf mit deinem Selbstmitleid. Hilf dir selbst.«
    »Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein«, erwiderte der Junge voll betroffenem Trotz.
    Der Revolvermann aß noch ein Stück Dörrfleisch, aus dem er das Salz herauskaute, bevor er es schluckte. Der Junge war hierher verschlagen worden, und der Revolvermann war davon überzeugt, daß er die Wahrheit sagte – er hatte nicht darum gebeten. Zu dumm. Er selbst… er hatte darum gebeten. Aber er hatte nicht darum gebeten, daß das Spiel so schmutzig werden würde. Er hatte nicht darum gebeten, seine Pistolen auf die unbewaffnete Bevölkerung von Tull richten zu dürfen; hatte nicht darum gebeten, Allie erschießen zu dürfen, deren Gesicht von dieser seltsamen, leuchtenden Narbe entstellt gewesen war; hatte nicht darum gebeten, vor die Wahl zwischen der Besessenheit seiner Pflicht und krimineller Unmoral gestellt zu werden. Der Mann in Schwarz hatte in seiner Verzweiflung angefangen, böse Drähte zu ziehen, falls der Mann in Schwarz der Drahtzieher hinter dieser Sache war. Es war nicht fair, unbeteiligte Außenstehende herbeizuholen und sie dazu zu bringen, auf einer seltsamen Bühne Dialogzeilen zu sprechen, die sie nicht verstanden. Allie, dachte er, Allie war wenigstens in ihrer eigenen selbsttäuschenden Weise in dieser Welt gewesen. Aber dieser Junge … dieser

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