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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ausgebrochen. Dessen Wellen hatten sich langsam ausgebreitet und Chaos und Anarchie vor sich her geschoben. Wenige Königreiche, wenn überhaupt, hatten sich gegen diese langsame Flutwelle behaupten können, und die Anarchie hatte sich so sicher über diesen Teil der Welt gesenkt, wie die Nacht dem Sonnenuntergang folgt. Ganze Armeen waren unterwegs gewesen, manchmal auf dem Vormarsch, manchmal auf dem Rückzug, aber stets verwirrt und ohne langfristige Ziele. Im Lauf der Zeit zerfielen sie in kleinere Gruppen, diese wiederum verkamen zu herumziehenden Banden und Waldläufern. Der Handel wurde spärlicher und versiegte schließlich völlig. Das Reisen, das unbequem gewesen war, wurde nun gefährlich. Zuletzt wurde es fast völlig unmöglich. Die Kommunikation mit der Stadt wurde zunehmend spärlicher und war vor rund hundertzwanzig Jahren ganz zum Erliegen gekommen.
    So wie hundert andere Dörfer auch, durch die Roland geritten war – zuerst mit Cuthbert und den anderen Revolvermännern, die man aus Gilead vertrieben hatte, dann allein auf der Jagd nach dem Mann in Schwarz –, war River Crossing vom Rest der Welt abgeschnitten worden und mußte auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen.
    An dieser Stelle raffte sich Si auf, dessen Stimme die Reisenden sofort in ihren Bann schlug. Er sprach im heiseren, gemessenen Tonfall eines Mannes, der sein Leben lang Geschichten erzählt hatte – einer der begnadeten Narren, die dazu geboren waren, Erinnerung und Fantasie zu Träumen zu weben, die so wunderbar filigran waren wie ein Spinnennetz voll Tautropfen.
    »Wir haben das letztemal zur Zeit meines Großda’ Tribut zum Schloß der Baronie geschickt«, sagte er. »Sechsundzwanzig Männer sind mit einem Wagen voll Fellen aufgebrochen – damals gab es keine harte Währung mehr, und das war das Beste, das sie zusammengebracht hatten. Es war eine lange und gefahrvolle Reise von fast achtzig Rädern, und sechs Männer starben unterwegs. Die Hälfte von ihnen fiel Waldläufern zum Opfer, die auf dem Weg zu den Kämpfen in der Stadt waren; die andere Hälfte starb an Krankheiten oder Teufelsgras.
    Als sie schließlich ankamen, war das Schloß verlassen, abgesehen von Krähen und Amseln. Die Mauern waren eingestürzt, Unkraut wuchs im Innenhof. Auf den Feldern im Westen hatte ein großes Gemetzel stattgefunden; die Ebene war weiß von gebleichten Gebeinen und rot von rostigen Rüstungen, so hat es jedenfalls mein Großda’ erzählt, und die Stimmen von Dämonen heulten wie der Ostwind aus den Kiefern der Gefallenen. Das Dorf beim Schloß war bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden, tausend oder mehr Schädel waren auf der Palisade aufgespießt worden. Unsere Männer ließen die Wagenladung Felle vor dem zertrümmerten Schloßportal – denn niemand wollte den Ort der Geister und wehklagenden Stimmen betreten – und machten sich wieder auf den Heimweg. Auf der Rückreise fielen weitere zehn, so daß von sechsundzwanzig, die aufgebrochen waren, nur zehn wiederkehrten, darunter mein Großda’… aber er hat sich einen Ausschlag an Hals und Brust geholt, den er bis zu seinem Todestag nicht mehr losgeworden ist. Das war die Strahlenkrankheit, so haben sie gesagt. Danach, Revolvermann, hat niemand mehr das Dorf verlassen. Wir waren auf uns allein gestellt.«
    Sie gewöhnten sich an die Übergriffe der Waldläufer, fuhr Si mit seiner brüchigen, aber melodischen Stimme fort. Wachen wurden aufgestellt; wenn berittene Banden gesichtet wurden – die sich fast immer auf der Großen Straße und dem Pfad des Balkens nach Südosten bewegten und in den Krieg zogen, der endlos in Lud wütete –, zogen sich die Dorfbewohner in den Unterschlupf zurück, den sie unter der Kirche gegraben hatten. Geringfügige Schäden an der Dorffassade wurden nicht ausgebessert, damit sie die umherziehenden Banden nicht neugierig machten. Die meisten freilich zeigten keine Neugier; sie ritten nur in gestrecktem Galopp durch und zogen mit Bogen oder Streitäxten auf den Schultern ins Kriegsgebiet.
    »Von welchem Krieg sprichst du?« fragte Roland.
    »Ja«, sagte Eddie, »und was ist mit den Trommeln?«
    Die Zwillinge wechselten rasche, fast abergläubische Blicke.
    »Von den Gottestrommeln wissen wir nichts«, sagte Si zu ihnen. »Weder gehört noch gesehen haben wir sie. Was nun den Krieg in der Stadt anbelangt…«
    Der Krieg hatte ursprünglich zwischen Waldläufern und Gesetzlosen gegen einen lockeren Bund von Mechanikern und ›Handwirkern‹

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