Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
langsam jede Hoffnung auf Rettung auf. Nicht einmal Roland würde ihn jetzt noch finden können. Wenn der Revolvermann es versuchte, würde er sich selbst verraten und durch die erstickenden Pfade dieser Alptraumwelt stolpern, bis er starb.
Jetzt liefen sie bergab, und die Mauern aus dicht gestapeltem Papier waren Korridoren aus Aktenschränken, Rechenmaschinen und Bergen von Computerzubehör gewichen. Es war, als würde man durch die Alptraumversion eines Elektronik-Kaufhauses laufen. Fast eine ganze Minute lang schien die Wand, die an Jakes linker Seite vorbeisauste, fast ausschließlich aus Fernsehern oder Videomonitoren zu bestehen. Diese starrten ihn an wie die glasigen Augen von Toten. Und als der Boden unter ihren Füßen sich immer weiter abwärts neigte, wurde Jake klar, daß sie sich wirklich in einem Tunnel befanden. Der Streifen bewölkten Himmels über ihnen war zum Band geworden, das Band wurde zum Streifen und der Streifen zum Faden. Sie befanden sich in einer düsteren Unterwelt und wuselten wie Ratten durch ein – gigantisches Netz aus Müll.
Und wenn alles über uns zusammenbricht ? fragte sich Jake, aber in seinem momentanen Zustand schmerzhafter Erschöpfung machte diese Möglichkeit ihm nicht viel Angst. Wenn das Dach einstürzte, würde er wenigstens ausruhen können.
Schlitzer trieb ihn weiter wie ein Farmer sein Maultier, schlug ihm auf die linke Schulter, wenn er nach links sollte, und auf die rechte, wenn er nach rechts sollte. Wenn der Weg geradeaus ging, schlug er Jake auf den Hinterkopf. Jake versuchte, einem vorstehenden Rohr auszuweichen, aber es gelang ihm nur teilweise. Er stieß mit der Hüfte dagegen und wurde quer durch den Gang auf einen Abschnitt voll Glasscherben und zersplitterter Holzbalken zugeschleudert. Schlitzer fing ihn und stieß ihn wieder vorwärts. »Lauf, du ungeschickter Bengel! Kannste nich laufen? Wenn der Ticktackmann nich wär, würd ich dich gleich hier in Arsch ficken und dir dabei die Kehle durchschneiden, ay, das würd ich!«
Jake lief in einem Nebel, wo nur Schmerzen und die gelegentlichen Hiebe von Schlitzers Fäusten auf seinem Rücken und dem Hinterkopf existierten. Als er schließlich sicher war, daß er nicht mehr laufen konnte, packte Schlitzer ihn am Hals und zerrte ihn so ruckartig zum Stillstand, daß Jake mit einem erstickten Würgen gegen ihn prallte.
»Jetzt kommt ein kitzliges kleines Stückchen!« keuchte Schlitzer liebenswürdig. »Schau gradaus, dann siehste zwei Drähte, die sich unten am Boden wie’n X überkreuzen. Siehste se?«
Zuerst sah Jake sie nicht. Es war düster hier; Berge von Kupferkesseln waren links aufgetürmt, und rechts Stahltanks, die wie Taucherausrüstungen aussahen. Jake dachte, daß er letztere mit einem starken Atemzug in einen Erdrutsch verwandeln konnte. Er fuhr mit den Unterarmen über die Stirn, strich sich Haarsträhnen aus den Augen und versuchte, nicht daran zu denken, wie er aussehen würde, wenn schätzungsweise sechzehn Tonnen dieser Stahltanks auf ihm lagen. Er sah blinzelnd in die Richtung, in die Schlitzer deutete. Ja, jetzt konnte er – gerade – zwei dünne silberne Fäden erkennen, die wie Gitarren- oder Banjosaiten aussahen. Sie führten von entgegengesetzten Seiten des Durchgangs herab und überkreuzten sich etwa fünfzig Zentimeter über dem Boden.
»Kriech drunter, mein Herzblatt. Und sei vorsichtig, denn wennde so nen Draht auch nur anhauchst, stürzen dir die halben Beton- und Stahlabfälle dieser Stadt auffen süßen kleinen Kopf. Auf mein’ auch, aber ich denk, das würd dich nich weiter stören, oder? Jetzt kriech!«
Jake streifte den Ranzen ab, legte sich hin und schob ihn durch die Lücke vor sich. Und als er sich unter den dünnen, straffen Drähten hindurchschob, stellte er fest, daß er doch noch ein wenig länger leben wollte. Ihm war, als könnte er die tausend Tonnen sorgfältig ausbalancierten Mülls, die nur darauf warteten, auf ihn herunterzustürzen, förmlich spüren. Diese Drähte halten wahrscheinlich zwei sorgfältig ausgesuchte Ecksteine an Ort und Stelle, dachte er. Wenn einer davon bricht… ashes, ashes, we all fall down. Er streifte mit dem Rücken an einem der Drähte und hörte hoch über sich etwas knirschen.
»Vorsicht, Jüngelchen!« stöhnte Schlitzer fast. »Ach so vorsichtig!«
Jake robbte auf Knien und Ellbogen unter den beiden Drähten durch. Das stinkende, schweißnasse Haar fiel ihm wieder in die Augen, aber er wagte nicht, es
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