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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sonnenklar gewesen – sie hatte ein Versprechen gegeben, und Versprechen mussten eingehalten werden. Wer sein Versprechen nicht einhielt, auf den wartete die Hölle.
     
     

3
     
    Sie ließ den rosillo langsamer galoppieren, solange er noch genügend Luft hatte. Sie drehte sich um, stellte fest, dass sie fast eine Meile zurückgelegt hatte, und nahm ihn noch mehr zurück – zu einem Kanter, einem Trab, einem schnellen Schritt. Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Zum ersten Mal an diesem Morgen registrierte sie die strahlende Schönheit des Tages – Möwen kreisten in der dunstigen Luft im Westen, ringsum wuchs hohes Gras, in jeder schattigen Nische blühten Blumen: Kornblumen und Lupinen und Flammenblumen und ihre Lieblinge, die zierlichen blauen Samtblumen. Allerorten war das emsige Summen von Bienen zu hören. Das Geräusch beruhigte sie, und als ihre Gefühlsaufwallungen ein wenig nachgelassen hatten, konnte sie sich etwas eingestehen – es sich eingestehen und dann laut aussprechen.
    »Will Dearborn«, sagte sie und erschauerte, als sie seinen Namen auf den Lippen spürte, obwohl niemand ihn hören konnte, abgesehen von Pylon und den Bienen. Also sprach sie ihn noch einmal aus, und als die Worte heraus waren, drehte sie unvermittelt das Handgelenk mit der Innenseite zum Mund und küsste es da, wo das Blut dicht unter der Haut pulsierte. Die Tat entsetzte sie, weil sie nicht gewusst hatte, dass sie so handeln würde, und entsetzte sie umso mehr, als der Geschmack ihrer Haut und ihres Schweißes sie sofort erregte. Sie verspürte den Drang, sich wieder auf die Weise abzukühlen, wie sie es nach ihrer ersten Begegnung im Bett getan hatte. So, wie sie sich fühlte, würde sie dafür nicht lange brauchen.
    Stattdessen knurrte sie den Lieblingsfluch ihres Vaters – »ach, beiß drauf!« – und spuckte an ihrem Stiefel vorbei. Will Dearborn war verantwortlich für zu viel Aufregung in ihrem Leben in den vergangenen drei Wochen; Will Dearborn mit seinen beunruhigenden blauen Augen, seinem dunklen Haarschopf und seinem steifen Sittenrichtergebaren. Ich kann diskret sein, Sai. Was Anstand betrifft? Ich bin überrascht, dass du das Wort überhaupt kennst.
    Jedes Mal, wenn sie daran dachte, sang ihr Blut vor Wut und Scham. Überwiegend Wut. Wie konnte er sich anmaßen, über sie zu richten? Er, der mit jedem erdenklichen Luxus aufgewachsen war, zweifellos mit Dienern, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablasen, und so viel Gold, dass er es wahrscheinlich nicht einmal brauchte – er bekam alles, was er wollte, umsonst, als Gefälligkeit. Was konnte ein Knabe wie er – und etwas anderes war er wirklich nicht, ein Knabe – schon von den schweren Entscheidungen wissen, die sie treffen musste? Und was das betraf, wie konnte jemand wie Mr. Will Dearborn aus Hemphill begreifen, dass diese Entscheidungen eigentlich gar nicht von ihr selbst getroffen worden waren? Dass sie dazu gebracht worden war, so wie eine Katzenmutter ein streunendes Kätzchen zum Körbchen zurückbrachte, indem sie es am Nacken packte?
    Trotzdem ging er ihr nicht aus dem Sinn; sie wusste, auch wenn es Tante Cord nicht wusste, dass bei ihrem Streit heute Morgen ein unsichtbarer Dritter zugegen gewesen war.
    Und sie wusste noch etwas, etwas, was ihre Tante in endlose Aufregung versetzt hätte.
    Will Dearborn hatte sie auch nicht vergessen.
     
     

4
     
    Etwa eine Woche nach dem Empfangsessen und Dearborns katastrophaler, verletzender Bemerkung ihr gegenüber war der zurückgebliebene Handlanger aus dem Traveller’s Rest – Sheemie, so nannten ihn die Leute – in dem Haus erschienen, wo Susan mit ihrer Tante wohnte. In den Händen hielt er einen großen Strauß, überwiegend Wildblumen, die draußen an der Schräge wuchsen, aber dazwischen auch vereinzelte dunkle wilde Rosen. Sie sahen wie rosige Satzzeichen aus. Der Junge hatte ein breites, sonniges Grinsen auf dem Gesicht getragen, als er das Tor aufmachte, ohne auf eine Einladung zu warten.
    Zu jenem Zeitpunkt hatte Susan den Aufgang zum Haus gefegt; Tante Cord war hinten im Garten gewesen. Ein glücklicher Umstand, wenn auch nicht sonderlich überraschend; in diesen Tagen kamen sie beide am besten miteinander aus, wenn sie sich so weit wie möglich aus dem Weg gingen.
    Susan hatte Sheemie, der hinter seiner hoch gehaltenen Blumenlast hervorgrinste, mit einer Mischung aus Faszination und Grauen entgegengesehen.
    »Tag auch, Susan Delgado, Tochter von Pat«, sagte Sheemie fröhlich.

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