Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Spinnwebchen gehüllt, Sai?«
»Verschwinde von hier, du frecher Kerl!«, schrie Tante Cord. Sie hatte eine ordentlich laute Stimme, wenn sie wollte, und Sheemie machte erschrocken einen Satz zurück. Als Tante Cord sich dann sicher war, dass er die Hauptstraße in Richtung Stadt zurückschlurfte und nicht die Absicht hatte, zu ihrem Tor zurückzukommen, um in der Hoffnung auf ein Trinkgeld herumzuhängen, hatte sie sich zu Susan umgedreht.
»Stell sie ins Wasser, bevor sie welken, Miss O So Jung Und Hübsch, und träum nicht und frag dich nicht, wer dein heimlicher Verehrer sein könnte.«
Dann hatte Tante Cord gelächelt. Ein richtiges Lächeln. Was Susan am meisten wehtat, sie am meisten verwirrte, war die Tatsache, dass ihre Tante kein Scheusal aus einem Kindermärchen war, keine Hexe wie diese Rhea vom Cöos. Sie war kein Ungeheuer, nur eine alte Jungfer mit bescheidenen gesellschaftlichen Ambitionen, einer Liebe zu Gold und Silber und der Angst davor, mittellos in die Welt geschickt zu werden.
»Für Leute wie uns, Susie-Schätzchen«, sagte sie mit einer schrecklich getragenen Freundlichkeit, »ist’s am besten, wenn wir uns an unsere Hausarbeit halten und Träume denen überlassen, die sie sich leisten können.«
5
Sie war sich sicher gewesen, dass die Blumen von Will waren, und lag damit auch richtig. Seine Nachricht war in einer klaren und einigermaßen schönen Handschrift geschrieben.
Liebe Susan Delgado,
ich habe in jener Nacht neulich unbedacht gesprochen und erflehe deine Verzeihung. Kann ich dich sehen und mit dir sprechen? Es muss unter vier Augen geschehen. In einer Sache von großer Bedeutung. Wenn du mich sehen willst, gib dem Jungen, der dir dies bringt, eine Nachricht. Er ist zuverlässig.
Will Dearborn
Eine Sache von großer Bedeutung. Unterstrichen. Sie verspürte den ausgeprägten Wunsch, zu erfahren, was so wichtig für ihn war, ermahnte sich aber, keine Dummheiten zu machen. Vielleicht war er vernarrt in sie… und wenn ja, wessen Schuld war das? Wer hatte mit ihm gesprochen, war auf seinem Pferd geritten, hatte ihm bei dem spektakulären Abstieg vom Pferd, die reinste Zirkusnummer, die Beine gezeigt? Wer hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und ihn geküsst?
Ihre Wangen und Stirn brannten beim Gedanken daran, und ein weiterer heißer Ring schien an ihr hinabzugleiten. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Kuss bedauerte, aber er war ein Fehler gewesen, Bedauern hin oder her. Ihn jetzt wiederzusehen würde alles nur noch schlimmer machen.
Und doch wollte sie ihn wiedersehen und wusste im Grunde ihres Herzens, dass sie bereit war, die Wut auf ihn zu vergessen. Aber sie hatte ein Versprechen gegeben.
Dieses vermaledeite Versprechen.
In jener Nacht lag sie schlaflos in ihrem Bett, warf sich unruhig hin und her und dachte, dass es besser wäre, würdevoller, einfach zu schweigen, doch dann entwarf sie im Geiste dennoch Antwortbriefe – manche schroff, manche kalt, manche mit einem flirtenden Unterton.
Als sie die Mitternachtsglocke hörte, die den alten Tag verabschiedete und den neuen begrüßte, entschied sie, dass es reichte. Sie war aus dem Bett gestiegen, zur Tür gegangen, hatte sie aufgestoßen und den Kopf auf den Flur hinausgestreckt. Als sie Tante Cords flötengleiches Schnarchen hörte, hatte sie die Tür wieder zugemacht, war zu ihrem kleinen Schreibtisch am Fenster gegangen und hatte die Lampe angezündet. Sie nahm ein Blatt Pergamentpapier aus der obersten Schublade, riss es entzwei (in Hambry gab es nur ein schlimmeres Verbrechen als Papierverschwendung, nämlich die Verschwendung von Zuchtvieh mit guter Erblinie), und dann schrieb sie hastig, weil sie spürte, dass das geringste Zögern sie zu weiteren Stunden der Unentschlossenheit verdammen würde. Ohne Anrede und Unterschrift dauerte es nur einen Atemzug, ihre Antwort niederzuschreiben:
Ich kann dich nicht sehen! Es wäre nicht schicklich .
Sie hatte den Zettel zusammengefaltet, ihre Lampe ausgeblasen, war wieder ins Bett gegangen und hatte den Zettel unter ihr Kopfkissen gelegt. Innerhalb von zwei Minuten war sie eingeschlafen. Am folgenden Tag, als das Einkaufen auf dem Markt sie in die Stadt führte, war sie zum Traveller’s Rest gegangen, das morgens um elf den Charme von etwas besaß, was am Straßenrand eines schrecklichen Todes gestorben war.
Der Vorplatz des Saloons bestand aus gestampfter Erde und wurde von einem langen Querholz mit einem Wassertrog
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