Der dunkle Wächter
Schnupfen eine Nachricht war und Nachrichten ansteckender waren als ein Schnupfen. Es gab keine Dorfzeitung, und es war auch keine nötig.
Es war Hannahs Auftrag, sie in das Leben, die Geschichte und die Wunder der Gemeinde einzuweisen. Da das Mädchen beim Reden eine atemberaubende Geschwindigkeit entwickelte, gelang es ihm, in einigen wenigen Vorträgen genügend Informationen und Klatsch unterzubringen, um ein ganzes Buch damit zu füllen. So erfuhren die Zuhörer, dass Laurent Savant, der örtliche Pfarrer, Tauchwettbewerbe und Marathonläufe veranstaltete und nicht nur in seinen Predigten gegen Müßiggang und mangelnde Körperertüchtigung wetterte, sondern selbst mehr Meilen auf dem Fahrrad zurückgelegt hatte als Marco Polo. Sie erfuhren außerdem, dass der Gemeinderat dienstags und donnerstags um ein Uhr mittags zusammenkam, um über Dorfangelegenheiten zu beraten, derweil Ernest Dijon, der stillschweigend auf Lebenszeit gewählte Bürgermeister, dessen Alter an das von Methusalem heranreichte, sich damit unterhielt, unterm Tisch neckisch in das Polster seines Sessels zu kneifen in der festen Überzeugung, er erkunde den strammen Oberschenkel von Antoinette Fabré, Schatzmeisterin der Gemeindeverwaltung und eine eiserne Jungfrau ohnegleichen.
Hannah feuerte minütlich ein Dutzend Geschichten dieses Kalibers auf sie ab. Das lag nicht zuletzt daran, dass ihre Mutter Elisabet in der Dorfbäckerei arbeitete, die zugleich als Nachrichtenbörse, Spionagezentrale und Kummerkasten von Baie Bleue fungierte.
Die Sauvelles begriffen schon bald, dass die Geschäfte des Dorfes einer besonderen Form des Pariser Kapitalismus folgten. Die Bäckerei verkaufte scheinbar nur Baguettes, aber im Hinterzimmer hatte das Informationszeitalter Einzug gehalten. Monsieur Safont, der Schuster, reparierte Schnürsenkel, Reißverschlüsse und Schuhsohlen, doch seine Stärke und der Anziehungspunkt für seine Kundschaft waren sein Doppelleben als Astrologe sowie seine Sternenkarten…
Das Schema wiederholte sich immer wieder. Das Leben erschien ruhig und einfach, doch gleichzeitig war es undurchsichtiger als ein byzantinischer Schleier. Der Schlüssel lag darin, sich auf den besonderen Rhythmus des Dorfes einzulassen, den Leuten zuzuhören und sich von ihnen in die Rituale einführen zu lassen, die jeder Neuankömmling durchlaufen musste, bevor er behaupten konnte, ein Bewohner von Baie Bleue zu sein.
Deshalb ließ sich Simone jedes Mal, wenn sie ins Dorf ging, um die Post und die Bestellungen für Lazarus abzuholen, in der Bäckerei blicken und machte sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft vertraut. Die Frauen von Baie Bleue nahmen sie bereitwillig auf und bombardierten sie sogleich mit Fragen über ihren geheimnisvollen Arbeitgeber. Lazarus führte ein zurückgezogenes Leben und ließ sich nur selten in Baie Bleue blicken. Zusammen mit den Fluten von Büchern, die er jede Woche erhielt, machte ihn das zum Mittelpunkt endloser Spekulationen.
»Stellen Sie sich das vor, meine liebe Simone«, raunte ihr einmal Pascale Lelouch, die Frau des Apothekers, zu, »ein alleinstehender Mann… nun ja, praktisch alleinstehend, in diesem Haus, mit all diesen Büchern…«
Simone bedachte diese scharfsinnigen Ausführungen für gewöhnlich mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, ohne weiter darauf einzugehen. Wie ihr verstorbener Mann einmal gesagt hatte, lohnte es nicht, seine Zeit damit zu vertrödeln, die Welt verändern zu wollen; es genügte zu verhindern, dass die Welt einen selbst veränderte.
Sie lernte auch, Lazarus’ sonderbare Anweisungen bezüglich seiner Korrespondenz zu respektieren. Die persönliche Post musste am Tag nach Erhalt geöffnet und dann umgehend beantwortet werden. Geschäftliche oder offizielle Schreiben mussten noch am gleichen Tag geöffnet, durften jedoch niemals vor Wochenfrist beantwortet werden. Und vor allem sollte ihm jeder Brief von einem gewissen Daniel Hoffmann aus Berlin persönlich übergeben werden und durfte niemals, unter keinen Umständen, von ihr geöffnet werden. Das Warum für all diese Dinge ging sie nichts an, beschloss Simone. Sie hatte gemerkt, dass sie gerne an diesem Ort lebte und diese Gegend bestens geeignet war, um ihre Kinder fernab von Paris großzuziehen. An welchem Tag die Post geöffnet wurde, war ihr völlig schnuppe.
Dorian wiederum stellte fest, dass ihm seine eifrige Beschäftigung mit der Kartographie noch genug Zeit ließ, um sich mit den Jungs aus dem
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