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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Stimme.
    Als sie das Wohnzimmer im Erdgeschoss betrat, stellte sie fest, dass sie sich nur in einem Punkt geirrt hatte: die Haare des Mädchens waren strohblond. Mit dem Rest hatte sie ins Schwarze getroffen. Auf diese Weise lernte Irene die hinreißende, stets vergnügte Hannah kennen– als Erstes vom Hören.
     
    Simone Sauvelle gab sich alle Mühe, das Abendessen, das Hannah tags zuvor für ihre Begegnung mit Lazarus Jann zubereitet hatte, mit einem köstlichen Frühstück zu erwidern. Beim Essen ging das Mundwerk des Mädchens noch schneller als beim Reden. Der Schwall an Anekdoten, Klatsch und allerlei Histörchen über das Dorf und seine Bewohner, der über sie hereinbrach, gab Simone und Irene schon nach wenigen Minuten das Gefühl, Hannah ein Leben lang zu kennen.
    Zwischen einem Toast und dem nächsten lieferte Hannah ihnen eine rasche Abfolge von Schlaglichtern auf ihr Leben. Im November werde sie sechzehn; ihre Eltern hätten ein Haus im Dorf, er sei Fischer, sie Bäckerin; bei ihnen lebe auch noch ihr Cousin Ismael, der habe vor Jahren seine Eltern verloren und gehe seinem Onkel, also ihrem Vater, auf dem Boot zur Hand. Zur Schule gehe sie nicht mehr, weil Jeanne Brau, diese Hexe, die Direktorin der Dorfschule, sie als faul und begriffsstutzig angesehen habe. Nun bringe ihr halt Ismael das Lesen bei, und ihre Kenntnisse im Einmaleins würden wöchentlich besser. Sie liebe die Farbe Gelb und sammle Muscheln, die sie am Strand des Engländers suche. Am liebsten höre sie Fortsetzungsromane im Radio und gehe im Sommer zum Tanz auf dem Dorfplatz, wenn fahrende Musikgruppen vorbeikämen. Sie benutze kein Parfüm, habe aber eine Schwäche für Lippenstifte…
    Wer Hannah zuhörte, erlebte etwas irgendwo zwischen Vergnügen und Erschöpfung. Nachdem sie ihr eigenes Frühstück verschlungen hatte sowie alles, was Irene nicht schaffte, hielt Hannah für einige Sekunden in ihrem Geplapper inne. Die Stille, die nun im Haus eintrat, erschien unwirklich. Aber sie währte natürlich nicht lange.
    »Wie wär’s, wenn wir beide einen Spaziergang machen und ich dir das Dorf zeige?«, fragte Hannah, plötzlich begeistert von der Aussicht, als Fremdenführerin von Baie Bleue zu dienen.
    Irene und ihre Mutter wechselten einen Blick.
    »Ich würde mich freuen«, antwortete Irene schließlich.
    Hannah strahlte bis über beide Ohren.
    »Keine Sorge, Madame Sauvelle. Ich bringe sie Ihnen gesund und munter zurück.«
    Und so stürzten Irene und ihre neue Freundin aus der Tür und liefen zum Strand des Engländers hinunter, während langsam wieder Ruhe im Haus am Kap einkehrte. Simone nahm ihre Kaffeetasse und trat auf die Veranda, um den Frieden des Morgens zu genießen. Dorian winkte ihr von den Klippen aus zu.
    Simone winkte zurück. Ein neugieriger Junge. Und immer allein. Er schien kein Interesse daran zu haben, Freunde zu finden, oder er wusste nicht, wie man das anstellte. Er lebte in seiner eigenen Welt, in seinen Heften, und nur der Himmel wusste, was in seinem Kopf vorging. Während sie ihren Kaffee austrank, warf Simone einen letzten Blick auf Hannah und ihre Tochter, die auf dem Weg zum Dorf waren. Hannah redete unermüdlich. Die einen zu viel, die anderen zu wenig.
     
    Die Einweisung der Familie in die Geheimnisse und Feinheiten des Lebens in einem kleinen Küstenort nahm den größten Teil des Julis in Baie Bleue ein. Die erste Phase des Kulturschocks und der Verwirrung dauerte eine lange Woche. In diesen Tagen stellte die Familie fest, dass die Sitten und Gebräuche in Baie Bleue mit denen in Paris nichts gemeinsam hatten außer der Verwendung des Dezimalsystems. Da war zunächst die Sache mit den Uhrzeiten. Es wäre nicht vermessen zu behaupten, dass in Paris auf tausend Einwohner ebenso viele Uhren kamen, kleine Tyrannen, die das Leben mit militärischer Willkür organisierten. In Baie Bleue hingegen gab es kein anderes Stundenmaß als das der Sonne. Und keine weiteren Autos als die von Doktor Giraud, der Gendarmerie und von Lazarus. Die Reihe der Gegensätze war endlos. Und im Grunde machten nicht Zahlen den Unterschied, sondern Gewohnheiten.
    Paris war eine Stadt von Unbekannten, ein Ort, an dem man jahrelang leben konnte, ohne den Namen des Menschen zu kennen, der auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnte. In Baie Bleue hingegen war es unmöglich, zu niesen oder sich an der Nase zu kratzen, ohne dass das Ereignis in der ganzen Gemeinde großen Widerhall gefunden hätte. Es war ein Dorf, in dem ein

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