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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Sommerregen, kurze Gewitter, die nur ein paar Stunden dauerten. Simone war mit ihren neuen Aufgaben beschäftigt. Irene gewöhnte sich an das Leben mit Hannah. Und Dorian lernte zu tauchen, während er in Gedanken Landkarten der geheimen Geographie von Greta Garbo zeichnete.
    Eines Tages, an einem dieser Sommertage, an denen der Regen der Nacht zuvor watteweiße Wolkenschlösser vor einem leuchtend blauen Grund aufgetürmt hatte, beschlossen Hannah und Irene, einen Spaziergang am Strand des Engländers zu machen. Vor anderthalb Monaten waren die Sauvelles in die Blaue Bucht gekommen. Und als es schien, als seien keine Überraschungen mehr zu erwarten, fingen diese gerade erst an.
     
    In der Mittagssonne war eine Fußspur entlang des Wassersaumes zu erkennen; über dem Meer flimmerten unwirklich die Masten im fernen Hafen.
    Mitten in dieser weißen Endlosigkeit aus staubfeinem Sand saßen Irene und Hannah auf den Überresten eines alten, auf Grund gelaufenen Bootes, umgeben von einem Schwarm kleiner blauer Vögel, die in den schneeweißen Stranddünen zu nisten schienen.
    »Warum heißt das hier ›Strand des Engländers‹?«, fragte Irene, während sie die menschenleere Fläche betrachtete, die sich zwischen dem Dorf und dem Kap erstreckte.
    »Hier lebte jahrelang in einer Hütte ein alter englischer Maler. Der arme Kerl hatte mehr Schulden als Pinsel. Er schenkte den Leuten im Dorf Bilder im Tausch gegen Essen und Kleidung. Vor drei Jahren ist er gestorben. Er wurde hier beerdigt, an dem Strand, an dem er sein ganzes Leben verbracht hatte«, erklärte Hannah.
    »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch gerne an einem Ort wie diesem beerdigt.«
    »Das sind ja fröhliche Gedanken«, scherzte Hannah, nicht ohne einen gewissen Vorwurf.
    »Ich hab’s ja nicht eilig damit«, stellte Irene klar, während ihr Blick auf ein kleines Segelboot fiel, das etwa hundert Meter vor der Küste in der Bucht kreuzte.
    »Oha«, murmelte ihre Freundin. »Da ist ja der einsame Seemann. Hat es keinen Tag ausgehalten, ohne in sein Boot zu steigen.«
    »Wer?«
    »Gestern sind mein Vater und mein Cousin mit dem Schiff zurückgekommen«, erklärte Hannah. »Mein Vater schläft noch, aber der da… Dem ist nicht zu helfen.«
    Irene sah aufs Meer hinaus und betrachtete die Jolle, die durch die Bucht glitt.
    »Das ist mein Cousin Ismael. Er verbringt sein halbes Leben auf diesem Kahn, zumindest wenn er nicht mit meinem Vater an der Mole arbeitet. Aber er ist ein feiner Kerl… Siehst du dieses Medaillon?«
    Hannah zeigte ihr das wunderschöne Schmuckstück, das sie an einem Goldkettchen um den Hals trug: eine im Meer versinkende Sonne.
    »Es ist ein Geschenk von Ismael…«
    »Es ist wunderschön«, sagte Irene, während sie das Medaillon eingehend betrachtete.
    Hannah sprang plötzlich auf und stieß ein wildes Geheul aus, das den Schwarm blauer Vögel ans andere Ende des Strands katapultierte. Wenig später winkte die undeutliche Gestalt am Ruder des Segelbootes und nahm Kurs auf den Strand.
    »Vor allem frag ihn nicht nach dem Boot«, riet ihr Hannah. »Und wenn er selbst auf das Thema zu sprechen kommt, dann frag ihn nicht, wie er es gebaut hat. Er kann stundenlang darüber reden, ohne aufzuhören.«
    »Liegt wohl in der Familie…«
    Hannah warf ihr einen wütenden Blick zu.
    »Ich glaube, ich lasse dich hier am Strand sitzen und überlasse dich den Krebsen.«
    »Entschuldigung.«
    »Angenommen. Aber wenn du mich geschwätzig findest, dann lern erst mal meine Patentante kennen. Neben ihr wirkt der Rest der Familie stumm.«
    »Ich würde sie wahnsinnig gerne kennenlernen.«
    »Ha, ha.« Hannah konnte ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken.
     
    Ismaels Segelboot durchschnitt sauber die Brandungslinie, und der Rumpf des Bootes schob sich auf den Sand. Der Junge holte rasch das Segel ein und verzurrte es in Sekundenschnelle unten am Baum. An Übung fehlte es ihm offensichtlich nicht. Sobald er festen Boden unter den Füßen hatte, musterte er Irene unbewusst vom Kopf bis zu den Füßen und verlor dabei genauso viele Worte wie beim Segeln. Hannah, die spöttisch die Augen verdrehte und hechelnd die Zunge herausstreckte, stellte sie einander vor, auf ihre Weise natürlich.
    »Ismael, das ist meine Freundin Irene«, verkündete sie liebenswürdig, »aber friss sie nicht gleich auf.«
    Der Junge stieß seine Cousine mit dem Ellenbogen an und reichte dann Irene die Hand.
    »Hallo…«
    Sein knapper Gruß wurde von einem scheuen,

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