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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Homer vom Meer spricht, vergleicht er seine Farbe mit dem von dunklem Wein. Das war sein Wort:
kyaneos.
«
    »Ich sehe, du kannst auch über etwas anderes reden als über dein Boot und Fischernetze.«
    »Ich gebe mir Mühe.«
    »Wer hat dir das beigebracht?«
    »Zu segeln? Das habe ich mir selbst beigebracht.«
    »Nein, das über die Griechen…«
    »Mein Vater hatte eine Schwäche für Geschichte. Ich besitze noch einige seiner Bücher…«
    Irene schwieg.
    »Hannah hat dir sicher erzählt, dass meine Eltern gestorben sind.«
    Sie nickte nur. Ein paar hundert Meter vor ihnen kam die Leuchtturminsel in Sicht. Irene betrachtete sie fasziniert.
    »Der Leuchtturm ist seit vielen Jahren außer Betrieb. Jetzt wird der im Hafen von Baie Bleue genutzt«, erklärte er ihr.
    »Kommt niemand mehr auf diese Insel?«, fragte Irene.
    Ismael schüttelte den Kopf.
    »Und warum?«
    »Magst du Geistergeschichten?«, gab er ihr zur Antwort.
    »Kommt darauf an…«
    »Die Leute im Dorf glauben, dass die Leuchtturminsel verhext ist oder so. Es heißt, vor langer Zeit sei dort eine Frau ertrunken. Manche wollen Lichter gesehen haben. Jedes Dorf hat seine Geschichten, und dieses hier ist keine Ausnahme.«
    »Lichter?«
    »Die Septemberlichter«, sagte Ismael, während die Insel backbords zurückblieb. »Der Legende zufolge– falls du es so nennen willst– beobachteten die Leute in einer Nacht im Spätsommer, als im Dorf der Maskenball stattfand, wie eine maskierte Frau im Hafen ein Segelboot bestieg und aufs Meer hinausfuhr. Einige glauben, dass sie zu einem heimlichen Treffen mit ihrem Geliebten auf der Leuchtturminsel fuhr; andere, dass sie vor einem schändlichen Verbrechen floh… Alle Erklärungen sind möglich, denn tatsächlich fand niemand je heraus, wer sie wirklich war. Ihr Gesicht war ja verhüllt. Aber als sie durch die Bucht fuhr, schleuderte ein furchtbarer, plötzlich aufkommender Sturm ihr Boot gegen die Felsen und zerstörte es. Die geheimnisvolle Frau ohne Gesicht ertrank vermutlich, zumindest wurde ihre Leiche nie gefunden. Tage später schwemmte die Flut ihre von den Felsen zerstörte Maske an. Seit damals erzählen die Leute, dass im Spätsommer, wenn es Nacht wird, Lichter auf der Insel zu sehen seien…«
    »Der Geist der Frau…«
    »… die ihre unvollendete Fahrt auf die Insel zu Ende bringen will. So erzählt man sich.«
    »Und, stimmt es?«
    »Es ist eine Geistergeschichte. Entweder du glaubst daran oder nicht.«
    »Glaubst du daran?«, wollte Irene wissen.
    »Ich glaube nur an das, was ich sehe.«
    »Ein skeptischer Seemann.«
    »So in etwa.«
    Irene sah erneut zu der Insel herüber. Die Wellen brachen sich donnernd an den Felsen. Die gesprungenen Scheiben des Leuchtturms brachen das Licht zu einem gespenstischen Regenbogen, der sich in dem Wasserschleier auflöste, der am Riff aufstob.
    »Warst du mal dort?«, fragte sie.
    »Auf der Insel?«
    Ismael straffte die Leine, und mit einer Bewegung des Ruders neigte sich das Boot nach Steuerbord, drehte den Bug in Richtung Kap und durchquerte die Strömung, die vom Ärmelkanal kam.
    »Vielleicht würde es dir ja gefallen, dort hinzufahren«, schlug er vor. »Zur Insel.«
    »Kann man das?«
    »Man kann alles. Die Frage ist, ob man sich traut«, gab Ismael mit einem herausfordernden Lächeln zurück.
    Irene hielt seinem Blick stand.
    »Wann?«
    »Nächsten Samstag. Mit meinem Segelboot.«
    »Allein?«
    »Allein. Aber wenn du Angst hast…«
    »Ich habe keine Angst«, wehrte Irene ab.
    »Dann am Samstag. Ich hole dich vormittags am Anlegeplatz ab.«
    Irene sah zur Küste hinüber. Das Haus am Kap thronte hoch oben auf den Klippen. Dorian stand auf der Veranda und beobachtete sie mit unverhohlener Neugier.
    »Mein Bruder Dorian. Vielleicht möchtest du mit raufkommen, um meine Mutter kennenzulernen…«
    »Ich bin nicht so gut bei solchen Vorstellungen.«
    »Dann ein andermal.«
    Das Segelboot glitt in den kleinen Naturhafen, der von den Klippen unterhalb des Hauses am Kap geschützt wurde. Mit großem Geschick reffte Ismael das Segel und ließ das Boot zum Anlegeplatz treiben. Dann nahm er ein Tau und sprang an Land, um das Boot festzumachen. Als es sicher vertäut war, reichte er Irene die Hand.
    »Aber Homer war blind. Wie konnte er wissen, welche Farbe das Meer hat?«, fragte das Mädchen.
    Ismael nahm ihre Hand und half ihr schwungvoll ans Ufer.
    »Ein Grund mehr, nur das zu glauben, was du siehst«, entgegnete der Junge, der nach wie vor ihre Hand hielt.

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