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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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noch laufen würde. Der kurze Segeltörn vom Strand des Engländers zum Haus am Kap war bereits in die Annalen jenes Sommers 1937 eingegangen.
    Tatsächlich vergingen die ersten Augusttage in der Blauen Bucht im Handumdrehen. Simone war es endlich gelungen, sich den Grundriss von Cravenmoore einzuprägen. Die Liste sämtlicher wichtigen Aufgaben im Haushalt war schier endlos. Schon die Verständigung mit den Händlern im Dorf, die Begleichung der Rechnungen, die Buchführung und die Bearbeitung von Lazarus’ Korrespondenz nahmen ihre gesamte Zeit in Anspruch, die Minuten, die sie zum Durchatmen und Schlafen brauchte, nicht mitgezählt. Ausgerüstet mit einem Fahrrad, das Lazarus Dorian freundlicherweise als Willkommensgeschenk gemacht hatte, diente ihr Sohn als Brieftaube, und nach einigen Tagen kannte der Junge jeden Stein und jedes Schlagloch auf der Straße am Strand des Engländers.
    Simone begann ihren Arbeitstag jeden Morgen damit, die ausgehende Post zu erledigen und die eingehende sorgfältig so zu sortieren, wie Lazarus es ihr erklärt hatte. Ein kleiner Notizzettel, nicht mehr als ein gefaltetes Blatt Papier, ermöglichte ihr einen raschen Überblick über alle Marotten, die Lazarus pflegte. Sie erinnerte sich noch an ihren dritten Tag, als sie um ein Haar versehentlich einen der Briefe von besagtem Daniel Hoffmann aus Berlin geöffnet hätte. Im letzten Augenblick war es ihr wieder eingefallen.
    Hoffmanns Schreiben trafen mit nahezu mathematischer Präzision alle acht Tage ein. Die Pergamentumschläge waren stets mit einem »D« versiegelt. Simone gewöhnte sich rasch an, sie von den Übrigen zu trennen, und beschäftigte sich nicht weiter mit dem Thema. In der ersten Augustwoche jedoch geschah etwas, das erneut ihre Neugier bezüglich der geheimnisvollen Briefe des Herrn Hoffmann weckte.
    Simone war gleich morgens in Lazarus’ Arbeitszimmer gegangen, um eine Reihe von Rechnungen und eingegangenen Zahlungen auf seinen Schreibtisch zu legen. Sie erledigte das am liebsten in den frühen Morgenstunden, bevor der Spielzeugfabrikant sein Arbeitszimmer betrat, um ihn später nicht zu unterbrechen und zu stören. Der verstorbene Armand hatte die Angewohnheit gehabt, seinen Tag mit der Durchsicht von Rechnungen und Zahlungseingängen zu beginnen. Solange er konnte.
    An jenem Morgen jedenfalls betrat Simone wie gewöhnlich das Arbeitszimmer und bemerkte Tabakgeruch in der Luft, was sie vermuten ließ, dass Lazarus bis spät in die Nacht dort gewesen war. Sie legte gerade die Unterlagen auf seinen Schreibtisch, als sie bemerkte, dass etwas in der nächtlichen Glut des Kamins verkohlte. Neugierig trat sie näher heran und versuchte mit dem Schürhaken herauszufinden, was es war. Auf den ersten Blick schien es sich um einen verschnürten Packen Papier zu handeln, den das Feuer nicht ganz vernichtet hatte. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als sie in der Glut klar und deutlich das Siegelzeichen auf dem Papierstoß erkannte. Briefe. Lazarus hatte Daniel Hoffmanns Briefe ins Feuer geworfen, um sie zu vernichten. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, sagte sich Simone, es ging sie nichts an. Sie legte den Schürhaken beiseite und verließ das Arbeitszimmer, fest entschlossen, nie mehr in den persönlichen Angelegenheiten ihres Arbeitgebers herumzuschnüffeln.
     
    Hannah wurde vom Prasseln des Regens geweckt, der an die Fensterscheiben klopfte. Es war Mitternacht. Das Zimmer war in bläuliche Dunkelheit getaucht, und das Wetterleuchten draußen über dem Meer warf gespenstische Schatten rings um sie herum. An der Wand tickte mechanisch eine von Lazarus’ sprechenden Uhren, während die Augen in dem Grinsegesicht unablässig von einer Seite zur anderen huschten. Hannah seufzte. Sie hasste es, auf Cravenmoore zu übernachten.
    Bei Tageslicht kam ihr Lazarus Janns Haus wie ein riesiges Museum voller Wunderwerke vor. Doch mit Einbruch der Nacht verwandelten sich die vielen hundert mechanischen Geschöpfe, Masken und Automaten in eine schaurige Gesellschaft, die nie schlief, sondern wach und aufmerksam in der Dunkelheit des Hauses wartete, unbeirrt lächelnd und ohne den Blick abzuwenden.
    Lazarus schlief in einem der Zimmer im Westflügel, gleich neben dem Zimmer seiner Frau. Abgesehen von diesen beiden und Hannah selbst wurde das Haus lediglich von den Geschöpfen des Spielzeugfabrikanten bevölkert. In jedem Korridor, in jedem Zimmer standen sie. In der Stille der Nacht konnte Hannah das Schnarren ihrer

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