Der dunkle Wächter
die Kerzen zum Erlöschen. Die vom Regen durchnässten Voilevorhänge wehten im Wind wie Leichentücher. Hannah trat einige Schritte ins Zimmer und schloss rasch das Fenster, dessen Griff der Wind gelockert hatte. Das Mädchen tastete mit zittrigen Fingern in der Tasche ihres Morgenmantels und zog die Streichholzschachtel hervor, um die Kerzen wieder anzuzünden. Im flackernden Licht des Leuchters erwachte die Dunkelheit um sie herum zum Leben. Hinter den Kerzen war etwas zu erkennen, das in ihren Augen wie das Zimmer eines Kindes aussah. Ein kleines Bett neben einem Schreibtisch. Bücher und Kinderkleidchen auf einem Stuhl. Ein Paar ordentlich vor dem Bett aufgestellte Schuhe. Ein winziges Kreuz, das an einem der Bettpfosten hing.
Hannah trat ein wenig näher. Diese Gegenstände und Möbelstücke hatten etwas Sonderbares, etwas Beunruhigendes, das sie nicht einordnen konnte. Ihre Augen erforschten erneut das Kinderzimmer. Es gab keine Kinder auf Cravenmoore. Es hatte nie welche gegeben. Was sollte dieses Zimmer?
Plötzlich fiel es ihr auf. Jetzt begriff sie, was sie anfänglich verwirrt hatte. Es war nicht die Ordnung. Es war nicht die Sauberkeit. Es war etwas so Einfaches, so Simples, dass es einem schwerfiel, überhaupt auf diesen Gedanken zu kommen. Dies hier war das Zimmer eines Kindes. Aber es fehlte etwas… Spielzeug. Es gab im ganzen Zimmer kein einziges Spielzeug.
Hannah hob den Leuchter hoch und entdeckte noch etwas an den Wänden. Blätter. Zeitungsausschnitte. Das Mädchen stellte den Kerzenleuchter auf dem Kinderschreibtisch ab und ging näher heran. Eine Collage aus alten Zeitungsausschnitten und Fotografien bedeckte die Wand. Auf einem Porträt war eine blasse Dame zu sehen; ihre Gesichtszüge waren hart, streng, und von ihren schwarzen Augen ging etwas Bedrohliches aus. Dasselbe Gesicht war auch noch auf weiteren Bildern zu sehen. Hannahs Blick fiel auf ein Bild der geheimnisvollen Frau mit einem Kind auf dem Arm.
Ihr Blick wanderte weiter über die Wand und blieb an alten Zeitungsausschnitten hängen, deren Schlagzeilen in keinem Zusammenhang zu stehen schienen. Meldungen über einen schrecklichen Brand in einer Pariser Fabrik und einen gewissen Hoffmann, der bei der Tragödie verschwunden war. Fast zwanghaft schien sich die Spur dieses Ereignisses durch die ganze Sammlung von Zeitungsausschnitten zu ziehen, die wie Grabsteine entlang der Mauern eines Friedhofs der Erinnerungen aufgereiht waren. Und mittendrin, umgeben von Dutzenden anderer unleserlicher Ausrisse, die Titelseite einer Zeitung aus dem Jahr 1890. Darauf das Gesicht eines Kindes. Seine Augen waren schreckgeweitet, die Augen eines geprügelten Tieres.
Die Ausdruckskraft dieses Bildes traf sie mit voller Wucht. Dieser knapp Sechs- oder Siebenjährige schien Augenzeuge eines entsetzlichen Geschehens geworden zu sein, das er kaum begreifen konnte. Hannah fror. Es war eine intensive Kälte, die aus ihrem eigenen Inneren kam. Ihre Augen versuchten den verblassten Text zu entziffern, der das Bild umgab. »Ein achtjähriger Knabe wurde aufgefunden, nachdem er acht Tage allein in einem dunklen Keller eingesperrt gewesen war«, stand unter dem Foto. Hannah betrachtete erneut das Gesicht des Kleinen. Da war etwas Vertrautes in seinem Gesicht, vielleicht in seinen Augen…
Genau in diesem Moment glaubte Hannah eine Stimme zu hören, eine Stimme, die hinter ihrem Rücken wisperte. Sie fuhr herum, doch dort war niemand. Das Mädchen seufzte erleichtert auf. Die trüben Lichtsäulen, die von den Kerzen aufstiegen, trafen in der Luft auf Tausende Staubkörnchen und verbreiteten einen purpurfarbenen Nebel ringsum. Sie trat an eines der Fenster und wischte mit den Fingern über die beschlagene Scheibe. Der Wald lag im Nebel. In Lazarus’ Arbeitszimmer im Flügel schräg gegenüber brannte Licht, und in dem warmen, goldenen Widerschein, der hinter den Vorhängen flackerte, zeichnete sich seine Silhouette ab. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch die freigewischte Stelle auf der Scheibe und zog sich wie ein heller Faden durch das Zimmer.
Erneut erklang die Stimme, deutlicher und näher diesmal. Sie wisperte ihren Namen. Hannah wandte sich dem dunklen Zimmer zu und bemerkte zum ersten Mal das Leuchten, das von einem kleinen Kristallflakon ausging. Der Flakon, schwarz wie Obsidian, stand in einer kleinen Wandnische, umgeben von Lichtreflexen.
Das Mädchen trat langsam näher und nahm den Flakon in Augenschein. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine
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